Gefälschte Medikamente Die Gefahr aus dem Medizinschrank
Nach Schätzungen von WHO und Interpol sterben jährlich etwa eine Million Menschen durch die Folgen gefälschter Medikamente. Diese haben auch längst die deutschen Apotheken erreicht. In einer Web-Dokumentation zeigen Patricius Mayer, Anna Hunger und Daniel Harrich die Wege auf.
Pharmacrime - Gefährliche Medikamente
Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sterben jährlich 1 Million Menschen weltweit durch die Folgen gefälschter Medikamente, Tendenz steigend. Auch in Deutschland haben gepanschte und minderwertig produzierte Medikamente längst die legalen Handelswege und gewöhnlichen Apotheken erreicht.
In vier Kapiteln folgt diese Web-Dokumentation den Spuren gefälschter Medikamente und prüft, wo diese herkommen, was sie anrichten und auf welchen Wegen sie auch zu uns nach Deutschland gelangen.
Der Fahnder
Hans-Joachim Mill war 30 Jahre lang Kriminalbeamter in Deutschland, mit Schwerpunkt Kapitalverbrechen. Danach wechselte er in die Pharma-Industrie und war mehrere Jahre im Sicherheitsbereich für einen der größten Pharma-Konzerne der Welt tätig.
Seine Aufgabe: Bekämpfung von Medikamentenfälschungen.
Tod eines Stars
Die Nachricht vom Tod des Sängers Prince am 21. April 2016 kam völlig überraschend. Der Leichnam des Musikers wurde auf seinem Anwesen Paisley Park in Minnesota entdeckt.
Seit Jahren litt der Musiker unter starken Hüftschmerzen. Ein Arzt soll ihm gegen die Schmerzen eine Kombination aus Paracetamol und dem Opioid Hydrocodon verschrieben haben. In seinem Körper fand sich allerdings eine tödliche Überdosis Fentanyl. Dieses wirkt um ein Vielfaches stärker als Morphium und wird hauptsächlich in der Anästhesie und der chronischen Schmerztherapie eingesetzt.
Das Fentanyl war in Pillen enthalten, die auf seinem Anwesen sichergestellt wurden. Laut Aufdruck enthielt die Packung die ärztlich verordnete Wirkstoffkombination aus Paracetamol und Hydrocodon. Diese wird unter Handelsnamen wie "Watson 385" oder auch als "Percocet" verkauft und ist in den USA äußerst populär.
Prince ist nicht das einzige Opfer. Laut dem amerikanischen "Center for Disease Control" sterben jährlich etwa 5500 Menschen in den USA an Fentanyl. Der Journalist und Schriftsteller Neil Karlen war über 30 Jahre lang eng mit Prince befreundet.
Eine Fälschung erkennen
Der ARD liegen exklusiv Laboruntersuchungen der Firma Pfizer vor. Es geht hierbei um Analysen sichergestellter Krebspräparate der Marke Sutent.
Eine Packung Sutent, wie Sie rechts im Bild sehen können, kostet in Deutschland etwa 7200 Euro. Sutent wird primär zur Behandlung von Magen-Darm-Krebs sowie bei Nierenkrebs eingesetzt. Der Wirkstoff Sunitinib hemmt eine bestimmte Gruppe von Eiweißstoffen, die für das Wachstum und die Ausbreitung von Krebszellen verantwortlich sind.
Ärzte stimmen die Therapie exakt auf die Patienten ab, abhängig von ihrem Alter, ihrem Gewicht und der Ausbreitung des Krebs. Die exakte Wirkstoffmenge und die Qualität des Zytostatikums haben unmittelbare Auswirkungen auf die Therapie.
In der folgenden Bildergalerie haben Sie die Möglichkeit, Einblick in die Laborunterlagen zu nehmen. Dabei lernen Sie vier Arten von Fälschungen kennen und erfahren, wie diese zu identifizieren sind.
Die ausgelagerte Produktion
Im Verlauf der letzten Jahre hat ein Großteil der internationalen Pharma-Unternehmen ihre Produktion von Fertigarzneimitteln sowie Wirkstoffen in Billiglohnländer wie Indien und China ausgelagert. Zeitgleich haben Fälle von Medikamentenfälschungen weltweit zugenommen - für Europa spricht die WHO von bis zu einem Prozent Fälschungen.
Waren vor etwa 10 Jahren vor allem Lifestyle-Präparate wie Potenz- und Schlankheitsmittel sowie Anabolika von Fälschungen betroffen, so betrifft dies inzwischen nahezu alle Medikamentenarten, sowohl lebenserhaltende und hochpreisige wie auch günstige Medikamente.
Und immer wieder beinhalten Fälschungen die Original-Formeln und Original-Wirkstoffe der Hersteller. Doch wie ist das möglich?
Im folgenden Kapitel erfahren Sie, welche Auswirkungen die Auslagerung der Medikamentenproduktion auf die Arzneimittelsicherheit hat und welche Rolle Indien als "Apotheke der Welt" hierbei spielt.
German Doctors
Die indische Bevölkerung ist massiv von gefälschten und minderwertig produzierten Medikamenten betroffen. Viele Patienten misstrauen den Medikamenten, die sie in ihren Apotheken und den öffentlichen Krankenhäusern erhalten, da diese in manchen Fällen gar keine Wirkung zeigen.
In Kalkutta suchen die Menschen regelmäßig die mobilen Behandlungsstationen der "German Doctors" auf, einer Hilfsorganisation aus Deutschland. Dort erhalten die Patienten kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten, die ein wenig mehr Sicherheit bieten.
Gefälschte Antibiotika
Indien ist weltweit führend in der Produktion von Antibiotika. Etwa 90 Prozent der Antibiotika, die in Deutschland im privaten wie auch im klinischen Bereich zum Einsatz kommen, stammen aus indischer und chinesischer Produktion. In Europa werden kaum noch Antibiotika produziert.
Antibiotika sind in Indien billige Massenware, darunter sind jedoch viele Fälschungen. Antibiotika, die von ihrem Wirkstoffgehalt abweichen, stellen nicht nur in Indien eine große Gefahr dar, sondern bis weit über die Grenzen hinaus. Denn gefälschte Antibiotika fördern die Zunahme multiresistenter Keime.
Der Whistleblower
Dinesh Takur arbeitete 20 Jahre lang als Wissenschaftler für ein amerikanisches Pharma-Unternehmen. Danach wechselte er zum indischen Pharma-Riesen Ranbaxy. Seine Aufgabe bestand darin, die Daten der Medikamentenstudien zu prüfen, die Ranbaxy für Zulassungsanträge in den USA und anderen Auslandsmärkten benötigte.
Dabei stellte er fest, dass Testergebnisse für HIV-Medikamente und andere Pharmazeutika gefälscht wurden und bei den Herstellungsverfahren von Arzneimitteln unsauber gearbeitet wurde. Nachdem die Firmenleitung seine Warnungen ignorierte, ging Dinesh Takur in die USA und teilte mit der amerikanischen Ermittlungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) seine Erkenntnisse.
Durch seine Aussage wurde erstmals der systematische Betrug bekannt, mit dem Ranbaxy Medikamente gefälscht hat und der sich seitdem in vielen weiteren Fällen bei zahlreichen anderen Unternehmen wiederholt hat. Dinesh Takur gilt in Indien als Volksverräter. Durch seine Aussage wurde er zum Whistleblower. Heute lebt er in den USA.
Wiederholungstäter
2008 kam es zum Gerichtsprozess. Ranbaxy bekannte sich schuldig, Daten erfunden, Dokumente manipuliert und gefälschte Medikamente exportiert zu haben und zahlte eine halbe Milliarde Dollar Strafe.
Doch 2014 wiederholte sich der Vorwurf. Laut Aussage der US-FDA sollen in einer Produktionsstätte im indischen Toansa Labordaten gezielt manipuliert worden sein, um Ergebnisse innerhalb der geforderten Spezifikationen zu erhalten. In dem Werk produziert Ranbaxy - inzwischen aufgekauft von Sun-Pharmaceuticals - im Auftrag von internationalen Generikaherstellern Wirkstoffe für zugelassene Arzneimittel in der EU.
Im folgenden Kapitel erfahren Sie, wie gefälschte und minderwertig produzierte Medikamente nach Europa und zu uns nach Deutschland gelangen.
Keine Qualitätskontrolle
In Europa sind die staatlichen Behörden unter Führung der European Medicines Agency (EMA) für die Kontrolle der Fabrikationsanlagen verantwortlich. So kontrollieren zwar auch deutsche Kontrolleure die ausländischen Fabrikationsstätten, die für den europäischen Markt produzieren. Allerdings finden die Kontrollen angekündigt und durchschnittlich nur alle zwei Jahre statt.
Bei den Kontrollen selbst wird nur die sogenannte "Good Manufactoring Practice" (GMP) überprüft. Dabei werden die Medikamente und ihre Produktion lediglich anhand des schriftlich fixierten Dokumentationsvorgangs überprüft. Die Qualität der Medikamente, ihre Reinheit und ihr Wirkstoffgehalt werden nicht getestet.
Die Macht der Pharmaindustrie
Laut Aussage von Experten sollen die Pharma-Unternehmen in den letzten Jahren zunehmend Stellen im Sicherheitsbereich abgebaut haben. In der gleichen Zeit haben sich 29 der weltweit größten Pharma-Firmen zusammengeschlossen, um die Sondereinheit der Internationalen Polizeiorganisation Interpol zu finanzieren. Mehrere Millionen Euro pro Jahr fließen an die Ermittler. Wie geht das zusammen?
Aline Plançon hat 12 Jahre lang bei Interpol im Kampf gegen die Medikamentenfälscher gearbeitet. Anfang 2017 hat sie Interpol verlassen. Mit ihrer jüngst gegründeten Organisation FMEDS kümmert sie sich nun um die Opfer von Medikamentenfälschung.
Themenabend
Mit einem großen Themenabend über "Gefährliche Medikamente" in der ARD hat ein Team aus Journalisten des Bayerischen Rundfunks und des Norddeutschen Rundfunks das Thema umfassend aufbereitet - im Radio, im Fernsehen sowie im Netz (#pharmacrime).
Auf der Themenseite gktlplllco.tudasnich.de/pharmacrime finden Sie weiterführende Artikel, die auf die Thematik eingehen und diese weiter ausführen.