Neue Kabel für die Energiewende Welches Stromnetz braucht das Land?
Der Ausbau der Stromnetze ist ein entscheidender Aspekt der Energiewende. Denn die Hinwendung zu erneuerbaren Energien verlangt neue Leitungen. 380.000 Kilometer neue Kabel sollen in den nächsten Jahrzehnten quer durch die Republik verlegt werden - ein Milliardenprojekt. tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen.
Warum muss das Netz ausgebaut werden?
Mit der Energiewende will die Bundesregierung das Land weg von der Atomenergie und hin zu erneuerbaren Energien führen. 2011 lag der Anteil von Wind, Wasser, Biogas, Erdwärme und Sonnenenergie bei 20 Prozent der gesamten Energieerzeugung. Im Jahr 2030 soll er bei 50 Prozent liegen, 2050 bei 80. Ein Großteil des Stroms käme dann von den Offshore-Windparks, die momentan vor der deutschen Nord- und Ostseeküste gebaut werden oder in Planung sind. Nahe der Ballungsräume und der großen Industriestandorte im Süden und im Westen der Republik sorgten bislang AKWs und Kohle für den Strom aus der Steckdose. Die Zukunft aber gehört den Windrädern, die sich auf offenem Meer drehen: Die Lücke im Süden soll vom Norden aus geschlossen werden.
Um diese Strommengen zu transportieren, müssen im Netz neue Kapazitäten geschaffen werden - das heutige Stromnetz wäre mit dieser Aufgabe überlastet. Die vier großen Übertragungsnetzbetreiber gehen in ihrem im Mai 2012 vorgestellten Netzentwicklungsplan davon aus, dass bis 2020 insgesamt 3800 Kilometer Höchstspannungsleitungen neu gebaut und 4400 Kilometer erneuert werden müssen. Die Gesamtkosten betrügen 20 Milliarden Euro.
Neben den Höchstspannungsleitungen müssen auch örtlichen Verteilernetze erweitert werden. Zwischen 2006 und 2011 hat sich die Strommenge aus Erneuerbaren in Deutschland von 11,6 Prozent auf 20,1 Prozent nahezu verdoppelt: Immer mehr Betriebe und private Erzeuger drücken Strom in dünne Leitungen, die zwar für den Verbrauch, nicht aber für die Stromerzeugung vorgesehen sind. Laut Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft müssen deswegen zwischen 195.000 und 380.000 Kilometer unterirdische Kabel verlegt werden.
Das deutsche Stromnetz besteht derzeit aus über 1,5 Millionen Kilometern Leitungen. Davon 35.708 Kilometer Höchstspannungsleitungen (380-220 KV), 76.279 Kilometer Hochspannungsleitungen (220-60 KV), 507.210 Kilometer Mittelspannungsleitungen (60-1 KV) und rund 1.160.000 Kilometer Niederspannungsleitungen. Von Kraftwerken wird der Strom zunächst über Höchstspannungsleitungen unter 380.000 Volt zu Ballungsgebieten und großen Industriestandorten transportiert. Umspannwerke wandeln den Strom dann auf ein Hochspannungsniveau von 110.000 Volt. Für das Niederspannungsnetz, worüber Haushalte und Unternehmen versorgt werden, wird der Strom auf 230 Volt, die reguläre Steckdosenspannung, transformiert.
Welche Probleme haben die Netzbetreiber beim Ausbau?
Bürgerinitiativen, Umweltschützer und Kommunen stemmen sich gegen viele Netzbauprojekte. Grund dafür sind die erheblichen Eingriffe in die Landschaft: 500 bis 1000 Meter breite Korridore mit 80 Meter hohen Masten wollen die Betreiberunternehmen anlegen, die meisten davon in Niedersachsen.
Weil Baugenehmigungen auf Länderebene erteilt werden, gerieten die Projekte bislang immer wieder ins Stocken. War eine Leitung in einem Bundesland fertiggestellt, konnten die Bauarbeiten im nächsten Bundesland teilweise nicht fortgesetzt werden, weil die entsprechende Genehmigung dafür noch ausstand.
Welche Alternative gibt es zu hohen Masten?
Laut einer Greenpeace-Studie wäre der Widerstand gegen unterirdische Kabel deutlich geringer. Das Problem: Der Bau und die Wartung von Erdkabeln sind teuer. Und weil die Leitungskapazität unterirdisch geringer ist, müssten Umspannwerke errichtet werden, die den Strom auf eine niedrigere Voltzahl transformieren. Außerdem wäre die doppelte Kabelmenge nötig. Experten taxieren die Kosten insgesamt auf das Vier- bis Zehnfache von oberirdischen Leitungen.
Mit welchen Maßnahmen soll der Ausbau ermöglicht werden?
Die Bundesregierung hat auf die Widerstände rund um den Netzausbau mit dem Entwurf des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (Nabeg) reagiert. Um die Baugenehmigungen schneller abzuwickeln, sollen diese bald zentral und länderübergreifend erteilt werden. Gemeinden, die durch den Ausbau des Nachteile erleiden, sollen mit 40.000 Euro pro Kilometer entschädigt werden.
Gleichzeitig sollen sich demnächst auch Bürger an die Bundesnetzagentur wenden können, die sich mit Beschwerden befassen soll. Landesbehörden dürfen verlangen, dass Höchstspannungsleitungen unterirdisch verlegt werden, sobald sie einen Abstand von 400 Metern zu Wohngebieten unterschreiten.
Was kostet das neue Netz?
Was kostet das neue Netz?
Der Bau von 3600 Kilometern Höchstspannungsleitungen über der Erde kostet laut Dena rund zehn Milliarden Euro. Finanzieren sollen das die Verbraucher: Die Kosten werden komplett auf den Strompreis umgelegt. Zunächst müssen die vier Betreiber des Höchstspannungsnetzes, Tennet, 50 Hertz, EnBW und Amprion die Ausbaukosten aber vorschießen.
Bis 2020 wird der Strom darum wohl schrittweise teurer: Pro Haushalt um jährlich 1,62 Euro - so die Prognose der Bundesnetzagentur. 2020 lägen die Kosten jährlich dann etwa 16 Euro höher als heute. Eine komplette Erdverkabelung wäre deutlich teurer: Nach einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft lägen die Kosten dafür bei rund 59 Milliarden Euro.
Eine 800 Kilometer lange Höchstspannungsleitung unterirdisch zu verlegen, würde vier Milliarden Euro zusätzlich im Gesamtpaket ausmachen.
Liegt der Netzausbau im Zeitplan?
Im Energieleitungsausbaugesetz EnLAG ist ein Zeitplan für die bundesweit 24 Bauprojekte festgeschrieben. In der ersten Phase bis 2015 sollen 850 Kilometer neue Leitungen stehen - im April 2012 waren davon gerade einmal 214 gebaut und nicht einmal 100 Kilometer in Betrieb genommen. Damit hinkt der Netzausbau den Planungen hinterher. In der zweiten Phase zwischen 2020 und 2025 soll das neue Höchstspannungsnetz mit rund 3600 zusätzlichen Kilometern vollständig ausgebaut sein.
Wie hoch ist das Risiko von großen Stromausfällen?
Die Strommenge, die die Windräder in das Netz einspeisen, schwankt je nach Wetterlage. An windigen Tagen produzieren sie mehr Strom als das Land benötigt. Um die Leitungen nicht zu überhitzen, müssen Netzbetreiber den überschüssigen Strom dann im Ausland loswerden. Bei wenig Wind besteht die Gefahr, dass die Netzfrequenz unter 50 Hertz sinkt. Damit wäre das Netz instabil.
Der Strom aus deutschen Steckdosen kann aber auch aus dem Ausland gekauft werden. Schon heute werden Stromkontingente auf europäischen Strombörsen erworben. Ob dieser Strom aus Kohle-, Wind- oder Atomkraftwerken stammt, ist an der Börse nicht nachzuvollziehen. Deswegen ist es trotz Energiewende wahrscheinlich, dass deutsche Haushalte auch künftig Atomenergie aus dem Ausland beziehen.
Sogenannte "Smart Grid"-Systeme können Stromerzeuger, Speicher, Umspannwerke, Verbraucher und Verteilernetze intelligent miteinander verbinden und den Stromfluss im Netz koordinieren. Die Systeme stellen fest, wo der Stromverbrauch besonders hoch ist, wie stark Leitungen belastet sind und wie viel Strom von wo ins Netz fließt.
Vor allem bei vielen kleinen Erzeugern ist eine intelligente Organisation im Netz wichtig. In Deutschland wird die Effizienz intelligenter Stromnetze zurzeit in sechs Modellregionen erprobt.
Sollte es, etwa im Winter, zu Engpässen auf dem deutschen Markt kommen, sollen Blöcke von zwei Kohlekraftwerken und eines Gaskraftwerkes zusätzlichen Strom liefern.
Wie kann man Strom aus Erneuerbaren speichern?
Pumpspeicherkraftwerke zeigen, wie aufwändig es ist, Strom aus Erneuerbaren zu speichern: In Zeiten mit überschüssigem Strom pumpen sie Wasser aus Tälern in höher gelegene Speicherseen. Sobald dann zusätzlicher Strom im Netz gebraucht wird, fließt das Wasser durch Fallrohre wieder abwärts und treibt Turbinen und damit Generatoren an. Etwa 85 Prozent des überschüssigen Stroms bleiben auf diese Weise erhalten. Gebiete in Süddeutschland und in den Mittelgebirgen würden sich zwar für den Bau weiterer Pumpspeicherkraftwerke eignen. Als massive Eingriffe in die Landschaft stoßen die großen Anlagen aber auf Widerstand. Einige Experten gehen sogar davon aus, dass in Deutschland keine weiteren Speicherseen durchsetzbar sind.
Weil Windenergie aus Nord- und Ostsee auf dem gesamten Kontinent an Bedeutung gewinnt, braucht Europa für die Energiewende eine Art Batterie - und die könnte in Norwegen liegen. Die vielen Pumpspeicher in Norwegen machen schon jetzt die Hälfte aller europäischen Speicherkapazitäten aus. Im Rahmen der Initiativen NorGer und NorLink werden deswegen bereits Leitungen vom norwegischen Süden an die deutsche Nordseeküste verlegt. Kosten: 1,4 Milliarden Euro. Zu 16 Prozent gehören die Leitungen norwegischen Energiekonzernen.
Neben Wasser kann auch Luft als Speichermedium dienen. In Druckluftspeicherkraftwerken werden komprimierte Luftmassen in einen unterirdischen, luftdichten Salzstock gedrückt. Wird Strom benötigt, kann diese Luft erhitzt und durch eine Gasturbine abgelassen werden. Der Wirkungsgrad bei Druckluftspeicherkraftwerken liegt bei bis zu 80 Prozent. Salzstöcke, die als Druckluftspeicher benutzt werden könnten, liegen vor allem im Norden Deutschlands.
Zusammengestellt von Roberto Jurkschat für tagesschau.de.