Lebensmittelbranche Bereichern sich Konzerne an der hohen Inflation?
Ökonomen und Verbraucherschützer vermuten in Supermärkten teils ungerechtfertigt hohe Preissteigerungen. Auch die Handelsketten klagen über die Forderungen der Hersteller. Zurecht?
Auch wenn die Inflationsrate zuletzt zum zweiten Mal in Folge gesunken ist - die Teuerung hierzulande bleibt auf einem sehr hohen Niveau. Das liegt vor allem an den Nahrungsmitteln: Im April lagen etwa die Milchpreise nach Angaben des Statistischen Bundesamts um fast 35 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Für Brot mussten die Verbraucher rund 21 Prozent mehr zahlen. Zucker, Marmelade oder Honig verteuerten sich jeweils um rund knapp 20 Prozent.
Die Lebensmittelpreise sind laut einer Studie der Allianz für über 40 Prozent der diesjährigen Inflation in Deutschland verantwortlich. Der Versicherer begründet die extremen Steigerungen mit den hohen Energie- und Betriebskosten der Hersteller und Händler. Aber: Mehr als ein Drittel der Teuerung könne gleichzeitig "nicht durch die historische Dynamik, Erzeuger- und Energiepreise erklärt werden". "Gewinnmitnahmen liegen also nahe", schlussfolgern die Ökonomen.
Teures Rapsöl - auch ohne Mangel
Der Vorwurf der sogenannten "Gierflation" ist nicht neu. Bereits im vergangenen Jahr berichtete das ifo-Institut, dass manche Unternehmen - darunter im Handel - offenbar die allgemeine Preissteigerung dazu genutzt hätten, ihre Gewinne auszuweiten. Sprich: Sie sollen ihre Preise stärker angehoben haben als es die gestiegenen Kosten erklären. Auch die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen betont, dass einige Preissteigerungen bei Lebensmitteln "weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar" seien.
"Wir haben in den Marktchecks, bei denen wir 20 Grundnahrungsmittel analysiert haben, festgestellt, dass es teilweise Preisunterschiede zwischen nahezu identischen Produkten von bis zu 400 Prozent gibt - zum Beispiel bei Langkornreis oder Butter", erklärt Frank Waskow, Lebensmittelexperte bei der Verbraucherzentrale, gegenüber tagesschau.de. Solche Preisspannen gebe es in normalen Zeiten nicht, und es sei auffällig, dass sich der Markt verändert habe. So seien die Preise für Rapsöl über Wochen und Monate so hoch gewesen wie für Sonnenblumenöl, obwohl es im Gegensatz dazu keinen Mangel gegeben habe. Der Preisverlauf bei Zucker sei ebenfalls nicht gerechtfertigt.
Bilanzen liefern keinen eindeutigen Beleg
Carsten Kortum, Studiengangsleiter Handel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), sieht den Vorwurf skeptisch. "Natürlich werden die Kostensteigerungen weitergegeben - je nach Händler und Sortiment auch fast zu 100 Prozent", sagt er im Gespräch mit tagesschau.de. Die Händler verzichteten nicht auf ihre Gewinne, zockten aber Verbraucher auch nicht ab. "Ich kann in den Geschäftszahlen der Händler und auch der Hersteller keine Profit-Preisspirale oder Übergewinne erkennen", so der Handelsexperte. Die Gewinnmargen sowohl bei Edeka, Rewe oder Lidl als auch bei Nestlé oder Danone seien im vergangenen Jahr nicht übermäßig gewachsen oder hätten sich sogar reduziert.
Die Beratungsgesellschaft Oliver Wyman hat für das "Handelsblatt" die 70 größten europäischen Unternehmen aus der Branche analysiert. Große Konsumgüterhersteller steigerten demnach ihre Ergebnisse vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) im Verhältnis zum Umsatz von 19,3 auf 19,8 Prozent leicht. Die Händler verzeichneten mit 6,4 statt 6,3 Prozent nur minimal höhere Margen. Die hohen Kosten für Grundstoffe, Agrarprodukte oder Energie belasteten die Bilanzen der Firmen also nicht erkennbar. Einen eindeutigen Beleg für "Gierflation" liefert die Untersuchung aber nicht.
Auch Verbraucherschützer Waskow gibt zu, dass er seine Annahmen nicht vollends beweisen kann: "Wir haben oft nur Durchschnittspreise der Güter. Um alle Produktpreise automatisch an den Ladenkassen zu dokumentieren, braucht es eine entsprechende Gesetzesgrundlage." Dennoch sei er aufgrund der Indizien überzeugt, dass es zumindest in Einzelfällen Mitnahmeeffekte gebe. Diese Entwicklung müssten sich das Bundeskartellamt und die Politik genauer anschauen. "Uns geht es nicht darum, die ganze Branche unter Generalverdacht zu stellen. Es geht um die Psychologie im Markt", so Waskow. Habe ein Unternehmen das Gefühl, dass die Behörden stärker kontrollieren, sei es vorsichtiger bei Preiserhöhungen.
Preiskampf zwischen Handel und Industrie
Kritik gibt es indes auch auch der Branche. "Wir haben an operativem Gewinn verloren, weil wir nicht bereit waren, die Preiserhöhungen der Hersteller in dieser Höhe an die Kunden weiterzugeben", sagte zuletzt etwa Edeka-Chef Markus Mosa. Sein Unternehmen und auch Rewe fordern nun ihre Lieferanten angesichts sinkender Rohstoffpreise auf, ihr Angebot für neue Einkaufspreise innerhalb einer Woche zu verbessern.
"Die Händler haben über gezielte Öffentlichkeitsarbeit versucht, den schwarzen Peter an die Hersteller zu geben", erklärt René Schumann, Geschäftsführer der Negotiation Advisory Group, die Nahrungsmittelhersteller bei den Preisverhandlungen berät. Doch diese Strategie habe nicht funktioniert. "Wir stellen fest, dass die Hersteller unbeirrt auf ihrer Forderung stehen bleiben und diese durchdrücken." Die Verhandlungsmacht habe sich eindeutig in Richtung der großen Lieferanten verschoben. Höhe und zeitliche Dichte von Preisforderungen stünden nicht immer im Verhältnis zur tatsächlichen Kostenentwicklung, sagt Schumann.
Dem Berater zufolge werden Preisverhandlungen in der Branche derzeit oft "schroff und eskalativ" geführt: "Die Verhandlungen kommen schnell an den Punkt: Belieferungsstopp oder Mehrpreisforderung akzeptieren. Die Händler haben es bisher auf Auslistungen ankommen lassen, merken jedoch jetzt, dass die Regale sich lichten." Das beobachtet auch Handelsexperte Kortum: "Die Preiskonflikte zwischen Handel und Industrie spitzen sich zu." Allein Edeka habe 17 Markenartikel ausgelistet, das sei in diesem Umfang nicht normal.
Bald Preissenkungen zu erwarten?
Dennoch funktioniere der Wettbewerb weiterhin gut, meint Kortum. "Ein Händler kann die Kostenentwicklungen relativ gut nachvollziehen, weil er meist auch ein umfangreiches Eigenmarkengeschäft hat", so der Fachmann. Somit sei er auch in der Lage, Preisforderungen einzuschätzen, und könne in Nachverhandlungen Senkungen verlangen. Wegen der aktuell sinkenden Erzeuger- und Energiepreise rechnet Kortum daher bald mit geringeren Preisen in den Supermärkten: "Preise ändern sich durch die Verhandlungen immer mit einem zeitlichen Verzug und nicht von einem Tag auf den anderen." Das habe man zuletzt beim sinkenden Milchpreis gesehen.
Auch Lidl-Chef Christian Härtnagel machte den Verbrauchern jüngst Hoffnung. "Wo wir Entspannung auf dem Rohstoffmarkt sehen, leiten wir dies an die Kunden weiter und senken die Preise", sagt er dem "Handelsblatt". Die Autoren der Allianz-Studie erwarten dagegen vorerst eher eine Stagnation der Preise. Durchgesetzte Preiserhöhungen werden demnach erfahrungsgemäß nur selten zurückgenommen. Dazu kommt, dass einige Preissteigerungen laut Lebensmittelexperte Waskow versteckt abgelaufen sind, indem sich die Verpackungsgrößen geändert haben: "Leider schauen nicht alle Verbraucher auf den entscheidenden Kilo- oder Literpreis."
Zudem würden teilweise auch hochwertige durch billigere Zutaten ausgetauscht - ohne ausreichende Kennzeichnung. Generell empfiehlt Waskow Kunden, frische und saisonale Nahrungsmittel zu kaufen, die in den vergangenen Monaten stets günstiger waren. Außerdem seien Eigenmarken weiterhin deutlich preiswerter als Markenprodukte.