Hunderttausende unterbezahlt Die Illusion vom Mindestlohn
Der Mindestlohn steigt. Was wirklich im Geldbeutel der Arbeitnehmer landet, liegt oft weit darunter. Fachleute fordern deshalb mehr Kontrollen und eine bessere Arbeitszeiterfassung.
Sechs Jahre hat Olga für eine Reinigungsfirma gearbeitet und an Freiburger Schulen geputzt. Es waren sechs Jahre, in denen sie fast jeden Monat um ihr Gehalt kämpfen musste, erzählt sie. Wegen des ganzen Ärgers will sie unerkannt bleiben, heißt hier deshalb nur Olga. Auf ihren Lohnabrechnungen sah alles korrekt aus: 11,55 Euro pro Stunde, bislang der Mindestlohn in der Gebäudereinigung. Doch in Wirklichkeit war es viel weniger.
Der Grund: Sie musste häufig Überstunden machen, um ihre Arbeit überhaupt zu schaffen - und die wurden nicht immer bezahlt. "Wir haben so viel gearbeitet. Zum Beispiel: 17 Klassenzimmer musste ich aufräumen, sauber machen. Dann hatte ich die Kantine und ich hatte zwei Büros und zwei große Toiletten. Und das musste ich schaffen in dreieinhalb Stunden."
Unrealistische Zeitvorgaben
Unmöglich machbar in dieser Zeit, deshalb häuften sich die Überstunden an. Mal zehn, mal 20 Überstunden die Woche, je nach Einsatzgebiet. Harte körperliche Arbeit ohne gerechten Lohn, das wollte Olga nicht akzeptieren. "Ich habe immer gekämpft um mein Gehalt. Und dann haben sie immer einen Haken zu finden versucht, um mich rauszuschmeißen." Für ihre Arbeitgeber war Olga unbequem. Um sie loszuwerden, hängte man ihr einen Diebstahl an. Vor Gericht hat sie mittlerweile ihre Unschuld bewiesen.
Ihr Anwalt Stefan Jönsson kennt die Reinigungsbranche gut. Olga sei nicht die einzige, die den Mindestlohn nur auf dem Papier bekommt. "Das Problem besteht darin, dass viele Leistungen nicht bezahlt werden, sondern dass mehr oder weniger eine Pauschale abgemacht wird", so der Jurist. "Man sagt: Du hast eine Stunde Zeit für dieses Objekt. Tatsächlich braucht man aber eineinhalb Stunden plus Anfahrt und Abfahrt, und dann kommt man pro Stunde nur noch auf fünf Euro netto."
Nach seinen Erfahrungen wird der Mindestlohn oft auf diese Art ausgehebelt. Auch offizielle Pausenzeiten, die Zeit zum Umziehen oder fürs Richten der Materialien würden oft nicht als Arbeitszeit gezählt.
Bangen um den Job
So geht es deutschlandweit je nach Berechnung 750.000 bis mehr als drei Millionen Arbeitnehmenden in unterschiedlichsten Berufen, sagt Johannes Seebauer, Arbeitsökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Spannbreite ist so groß, weil es schwierig ist, belastbare Daten zu bekommen. Viele von ihnen arbeiten in der Gebäudereinigung, weitere häufig betroffenen Branchen sind das Hotel- und Gaststättengewerbe, das Baugewerbe oder die Transport- und Logistikbranche.
Laut Daten des DIW sind insbesondere ohnehin benachteiligte Gruppen betroffen: Frauen, Minijobber, junge Beschäftigte unter 24 Jahren und Menschen im Rentenalter sowie mit geringer Schulbildung und ausländische Beschäftigte. Oft sind es die Schwächsten der Schwachen, erzählt auch Arbeitsrechtler Jönsson - zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund, die kaum Deutsch sprechen und den Job brauchen, um ihre Aufenthaltserlaubnis zu behalten. "Die sind abhängig, weil sie Angst haben, dass sie aus Deutschland raus müssen, wenn sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Wenn sie den Job verlieren, verlieren sie die Wohnung. Das ist ein Rattenschwanz - zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben", so Jönsson.
Kaum Klagen
Prinzipiell könne jeder seinen Arbeitgeber verklagen, wenn der den Mindestlohn nicht zahle; in der Realität tue das aber kaum einer. Das Problem kennt auch Olga. Viele ihrer Kolleginnen hätten sich noch nicht mal getraut, die Chefs auf die nicht bezahlten Überstunden anzusprechen. "Sie hatten Angst, darüber zu reden, wegen Rausfliegen, deshalb waren die einfach ruhig und haben weitergearbeitet."
Andreas Harnack von der IG BAU Stuttgart, der zuständigen Gewerkschaft für die Gebäudereinigung, hört das immer wieder. Die Reinigungsbranche sei relativ kleinteilig, erklärt er. Die Objekte würden dann noch einmal kleinteiliger. Vor Ort seien unterschiedlich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Für den einzelnen sei es dann schwer, seine Rechte durchzusetzen. "Deswegen sagen wir ausdrücklich zu den Beschäftigten: Kommt, organisiert euch, meldet euch bei der Gewerkschaft und sagt, wo ihr seid."
Probleme mit der Dokumentation
Aber auch der Staat sei in der Verantwortung, es müsse deutlich mehr Kontrollen geben, sagt Harnack. "Verstöße beim Lohn werden immer noch so ein bisschen wie ein Kavaliersdelikt angesehen, was überhaupt nicht geht." Dass die Kontrollen für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit so vielen kleinen Objekten allein oft nicht zu schaffen seien, kann er nachvollziehen - seiner Meinung nach "müssen die Tarifvertragsparteien, müssen wir als Gewerkschaft auch mit ran bei den Kontrollen".
Doch selbst wenn es Kontrollen gebe, seien diese oft nicht hilfreich, sagt DIW-Experte Seebauer. Das Hauptproblem für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sei die Erfassung der Arbeitszeit. Denn das Mindestlohngesetz setzt Stundenlöhne fest, doch in den meisten Arbeitsverträgen steht ein vereinbarter Monatslohn. Um zu überprüfen, ob nun der gesetzliche Mindestlohn bezahlt wurde, müssen die Arbeitsstunden überprüfbar sein. Die Dokumentation der täglichen Arbeitszeit ist zwar für bestimmte Branchen, die besonders anfällig sind für Missbrauch und für Umgehung des Mindestlohns, verpflichtend, kann aber bis zu einer Woche im Nachgang sowie in Papierform erfolgen. Das gilt auch im Fall von Kontrollen. Diese Dokumentation sei alles andere als wasserdicht, findet Seebauer.
Unfairer Wettbewerb auf Kosten der Beschäftigten?
Dass der Mindestlohn erhöht werden soll, sei schön und gut. "Wichtiger wäre es aber, dass zunächst der Mindestlohn, der jetzt gilt, eingehalten wird. Und solange das nicht passiert, ist es auch müßig, nur über die Höhe zu debattieren." Seebauer findet: Unternehmen, die den Mindestlohn umgehen, schaden nicht nur ihren Arbeitnehmern. Sie verschaffen sich auch unlautere Wettbewerbsvorteile und drängen ehrliche Arbeitgeber vom Markt. Außerdem entgingen dem Staat - und damit der Allgemeinheit - beträchtliche Steuereinnahmen durch die zu niedrigen Löhne.
Seebauer fordert deshalb, dass die Regierung investiert, um eine digitale und manipulationssichere Zeiterfassungslösung bereitzustellen. Diese müsse für die Unternehmen auch verpflichtend sein. "Denn nur so wird sich die Einhaltung von Arbeitszeiten mittelfristig besser kontrollieren lassen. Und nur so werden wir auch irgendwann dahinkommen, dass der Mindestlohn, der auf dem Papier steht, tatsächlich auch bei den Menschen ankommt."
Olga sucht jetzt eine neue Arbeitsstelle. Ob diese schon eine digitale Zeiterfassung haben wird? Eines will Olga auf jeden Fall nicht mehr: Sechs Jahre um das Geld kämpfen, das ihr rechtlich zusteht.