Siemens Hauptversammlung am 3. Februar 2021

Machtwechsel bei Siemens Das schwere Erbe von "Big Joe"

Stand: 03.02.2021 19:34 Uhr

Einst produzierte Siemens fast alles - vom Kühlschrank bis zum Hörgerät. Inzwischen konzentriert sich der Konzern auf wenige Bereiche. Der neue Chef muss nun den Spagat zwischen Innovationen und Rendite schaffen.

Von Notker Blechner, tagesschau.de

Keine Show, keine Beifallstürme der Aktionäre, keine Demo der Klimaschutz-Aktivisten: Ziemlich leise und unspektakulär endete am Mittwoch die "Joe-Kaeser-Ära" bei Siemens. Nach acht Jahren an der Spitze des größten deutschen Industriekonzerns geht "Big Joe" von Bord und gibt den Chefposten an Roland Busch ab. Dabei hat Kaeser wie kein anderer Chef vor ihm den Traditionskonzern radikal umgekrempelt und neu aufgestellt. Der Betriebswirt und Finanzexperte spaltete Osram, die Medizintechnik-Sparte Healthineers und schließlich auch noch die Energiesparte, sozusagen den Kern von Siemens, ab.

Nur noch drei Sparten sind übrig

Seinem Nachfolger hinterlässt Kaeser eine Rumpf-Siemens, deren Umsatz von 87 auf 55 Milliarden Euro geschrumpft ist und die sich auf drei Bereiche fokussiert hat: die digitale Industrie mit einem Umsatz von 16 Milliarden Euro, die smarte Infrastruktur (15 Milliarden Euro) und die Mobilität (neun Milliarden Euro). Busch muss aus dem Gebilde einen schlagkräftigen Konzern formen. Und entscheiden, ob er die Minderheitsbeteiligungen an Siemens Energy bald ganz abstößt.

Der 56-jährige Physiker will den Erlanger Technologiekonzern noch stärker auf Digitalisierung trimmen. "Jetzt ist unser Ziel, aus Siemens ein nachhaltig wachsendes, fokussiertes Technologieunternehmen zu machen", sagte er auf der virtuellen Hauptversammlung. Dazu gehörten nicht nur hohe Wachstumsraten und starke Renditen, sondern auch ein hoher Anteil an wiederkehrenden Umsätzen und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die jüngsten Übernahmen vor allem von Softwarefirmen und die Forschungsinvestitionen müssten sich nun auszahlen. Digitalisierung sei für ihn nicht Bedrohung, sondern "eine Antwort auf die großen Fragen unserer Zeit - auf Klimawandel, Globalisierung, Urbanisierung und demografischen Wandel", sagte Busch.

Roland Busch

Roland Busch will Siemens für die Zukunft neu aufstellen. Die Fußstapfen seines Vorgängers Joe Kaeser sind groß.

Digitalisierung bietet "Jahrzehnt der Möglichkeiten"

Der neue Konzernchef sieht Siemens vor einem "Jahrzehnt der Möglichkeiten", weil sich die Industrie durch die Digitalisierung neu erfinden müsse. Seiner Einschätzung nach dürften deshalb die weltweiten Investitionen in Automatisierung, intelligente Gebäude sowie Mobilität und Ladeinfrastruktur zum Teil deutlich zulegen. Siemens-Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe nennt das die "nächste Phase der Transformation von Siemens".

Mit Digitalisierung kennt sich Busch aus. Er war seit 2016 Technik-Vorstand, in der Business-Sprache Chief Technical Officer (CTO), und trieb den Wandel von Siemens zum IT-Konzern voran. "Busch liebt die Technologie", sagen andere über ihn. Statt in langen Management-Konferenzen tummelte sich der Physiker lieber auf der Hannover-Messe, um nach neuesten Innovationstrends Ausschau zu halten. Mit seinen Ingenieuren redet Busch über kleinste Details. Bei der Analyse von Problemen in der Mobilitätssparte wollte er bis zur letzten Schraube wissen, wie ein ICE funktioniert, erzählen Mitarbeiter. Zum ersten Mal seit 30 Jahren hat ein Techniker wieder das Sagen im deutschen Traditionskonzern und beendet die Herrschaft der Finanzleute.

Zurück zu den Wurzeln

So besinnt sich der Technik-Fan Busch auf die Wurzeln von Siemens, nämlich Innovationen. "Ob Gebäude oder Züge, egal wo Sie hinschauen: überall ist Siemens-Technologie drin", sagte er im vergangenen Sommer in einem Interview. "Wir helfen den Menschen." So wie einst vor über 170 Jahren, als Siemens mit der Erfindung des Zeigertelegraphen das Leben vieler Bürger veränderte.

Wie Innovationen in dem mitunter trägen und bürokratischen DAX-Konzern mit gut 50 Milliarden Euro Umsatz und fast 300.000 Mitarbeitern entstehen sollen, ist die große Frage. Busch träumt von einer "Start-up-Kultur". Der 56-Jährige will Hierarchien abbauen, interne Silos niederreißen und Freiraum schaffen für Mitarbeiter, die innovative neue Ideen umsetzen möchten.

Nicht alle erfüllen die Rendite-Ziele

Neben Innovationen geht es natürlich auch um knallharte Renditen. Der radikale Umbau des Siemens-Konzerns hat zwar zu einer höheren Profitabilität geführt. Doch nicht alle Sparten erfüllen die Vorgaben. So sank im Geschäftsjahr 2019/20 die Rendite im Segment der smarten Infrastruktur auf 9,1 Prozent und blieb unter der anvisierten Spanne von zehn bis 15 Prozent. Um das Ziel zu erreichen, soll die digitale Vernetzung von Gebäuden und Infrastruktur ausgebaut werden.

Auch die Sparte Medizintechnik Healthineers schaffte die Vorgaben von 17 bis 21 Prozent Rendite nicht. Das lag aber vor allem an der Corona-Pandemie. Viele Routineuntersuchungen in Artpraxen und Kliniken mussten verschoben werden. 2021 dürfte sich das Geschäft von Healthineers wieder erholen. Siemens hält die Mehrheit (85 Prozent) an der 2018 an die Börse gebrachten Medizintechnik-Tochter.

Vom Sorgenkind zum Renditebringer hat sich überraschend die Sparte Mobilität mit der Bahntechnik entwickelt. Trotz Corona stieg hier der Umsatz sogar um zwei Prozent auf neun Milliarden Euro. Die Auftragsbücher sind gut gefüllt. Vor kurzem schnappte sich Siemens einen gigantischen Milliardenauftrag in Ägypten. Für 23 Milliarden Dollar baut der Konzern das erste 1000 Kilometer lange Schnellzugnetz des Landes.

Digitale Industrie ist der Renditetreiber

Am profitabelsten ist die Sparte der Digitalen Industrie. Sie verbesserte im vergangenen Geschäftsjahr die operative Marge von 17,9 auf 21,7 Prozent. Damit liegt sie am oberen Ende der geforderten Spanne von 17 bis 23 Prozent. Dank mehrerer Übernahmen hat sich Siemens zum Weltmarktführer bei Industriesoftware entwickelt. Der Münchner Konzern zählt zu den Pionieren der Industrie 4.0, deren Fortschritte alljährlich auf der Industrieschau Hannover-Messe zu sehen sind. Siemens will mit Mindsphere das zentrale Betriebssystem für die Digitalisierung der Industrie schaffen.

Busch muss jetzt die Vision von der neuen Siemens AG mit Leben füllen und zum Erfolg führen, fordern Aktionäre und Investoren. Weitere Abspaltungen plant der neue Siemens-Lenker vorerst nicht. Die Konzentration soll auf organischem Wachstum und operativen Verbesserungen liegen, sagt er. Busch müsse verstärkt die Gemeinsamkeit zwischen den Sparten herausarbeiten und den Konzern zusammenhalten, meint ein Arbeitnehmervertreter gegenüber dem "Handelsblatt".

Neue Übernahmen schließt der oberste "Siemensianer" indes nicht aus. Siemens brauche jetzt eine gewisse Größe, um mit den führenden IT-Firmen auf Augenhöhe zu sprechen, betonte er zuletzt. Was das heißt, bleibt offen. Analysten erwarten freilich bis Ende 2022 keine Groß-Akquisitionen.

Was Busch anders als Kaeser macht

Einen Kurswechsel dürfte es in der "Busch-Ära" nicht geben. Nur in einem wird sich der neue Konzernlenker von Vorgänger Kaeser klar unterscheiden: Er wird sich weniger stark in gesellschaftliche und politische Themen einmischen. Kaeser twitterte in den letzten Jahren fleißig. Mal kritisierte er Tesla-Chef Elon Musk oder US-Ex-Präsident Donald Trump, dann schimpfte er auf die AfD ("Lieber Kopftuchmädel als Bund deutscher Mädel!"). Mit der Fridays-for-Future-Bewegung suchte er den Dialog - und schoss ein Eigentor. Trotz Protesten nahm der Konzern einen Auftrag zur Lieferung eines Bahnsignaltechnik-Systems für eine australische Kohlemine an. Um die Debatte zu beenden, bot er der Klimaaktivistin Luisa Neubauer einen Job im Aufsichtsrat an. Diese lehnte ab - und düpierte "Big Joe".

Joe Kaeser

Joe Kaeser lenkte acht Jahre lang die Geschicke von Siemens. Er galt als meinungsstark und durchsetzungsfähig.

Eine solche PR-Blamage will sich Nachfolger Busch ersparen. Er werde sich nur an politischen oder gesellschaftlichen Debatten beteiligen, wenn es um die geschäftlichen Interessen und Werte von Siemens gehe, versprach er. Der neue Siemens-Lenker unterstützt den Weg zur CO2-Neutralität in der Energieerzeugung. "Wahrscheinlich ist der Klimawandel für die Weltwirtschaft langfristig noch bedrohlicher als Covid", sagte er in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". "Wir glauben immer, wir hätten noch Zeit, bis wir handeln müssen. Das ist gefährlich." Solche Worte dürfte Klimaschutz-Aktivistin Neubauer gerne hören…

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 03. Februar 2021 um 20:00 Uhr.