Hintergrund

Suche nach Alternativen zum BIP Die Vermessung des Wohlstands

Stand: 13.12.2010 09:33 Uhr

Wie geht es uns? Als Maßstab dafür sehen Politik und Wirtschaft vor allem eine Zahl: das Bruttoinlandsprodukt. Aber ist Wachstum alles? Die Debatte darüber gewinnt an Fahrt. Jetzt will der Bundestag einen neuen Indikator für Wohlstand entwickeln. Vorschläge aus der Wissenschaft liegen längst auf dem Tisch. Ein Überblick.

Von Claudia Witte, tagesschau.de

Keine andere Zahl aus der Welt der Wirtschaft zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wächst es, so die Annahme, verdienen nicht nur die Unternehmen besser, auch der Wohlstand steigt. Schrumpft das BIP, droht Ungemach. Unternehmer und Anleger richten sich nach den Wachstumsprognosen der Konjunkturforscher wie Bergsteiger nach dem Wetterbericht. Regierungen ringen darum, das BIP zu steigern – im Krisenfall etwa mit milliardenschweren Konjunkturprogrammen.

Aber macht das Wirtschaftswachstum die Menschen auch wirklich wohlhabender, zufriedener oder gar glücklicher? Und geht es der Welt besser, wenn die Wirtschaft brummt?  

Zitat

"Diejenigen, die unsere Gesellschaften mithilfe des BIP lenken wollen, sind wie Piloten ohne einen verlässlichen Kompass."

Zweifel an der Botschaft des BIP sind nicht neu. "Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, nur nicht das, was das Leben lebenswert macht", sagte einst der US-Politiker Robert Kennedy. Schon 1972 prophezeite der Club of Rome die Grenzen des Wachstums. Das BIP misst die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, nicht aber das Wohlergehen einer Gesellschaft. Als Wohlfahrtsindikator war es auch nicht konzipiert. Das BIP entstand während der Großen Depression 1929, weil Regierungen und Ökonomen einen Indikator als Anhaltspunkt suchten, um die Wirtschaft besser zu steuern.

BIP allein macht nicht glücklich

Im Bundestag beschäftigt sich neuerdings auch eine Enquetekommission mit der Frage, wie Wohlstand und Lebensqualität gemessen werden können. Denn das BIP allein, darin sind sich die meisten einig, ist dazu nicht in der Lage. "Die Ressourcenausbeutung, der Verzehr des ökologischen Kapitals, müsste eigentlich abgeschrieben werden", sagt der Oldenburger Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech. Eine neue Straße taucht auf der Habenseite der Volkswirtschaft auf, der dafür gerodete Wald wird aber nicht gegengerechnet.

Krankheiten durch Stress und Umwelt sorgen für höheren Umsatz der Pharmaindustrie - und steigern das BIP. Verkehrsunfälle oder Naturkatastrophen kurbeln die Wirtschaft an, weil sie Kosten verursachen. Das BIP steigt, wenn Autofahrer im Stau stehen und mehr Benzin verbrauchen – auch wenn das an den Nerven zerrt und Ressourcen vernichtet. Es bläht sich auf, wenn mit faulen Krediten Tausende neuer Immobilien finanziert werden – auch wenn das in die Wirtschaftskrise führt.

Bruttoinlandsprodukt

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der wichtigste Gradmesser für die Leistung einer Volkswirtschaft. Es umfasst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft erwirtschaftet werden.

Das BIP der Bundesrepublik berücksichtigt auch die Leistungen der Ausländer, die hierzulande arbeiten. Die Leistungen der Inländer, die im Ausland arbeiten, werden nicht erfasst.

Und das BIP unterschlägt zum Beispiel die Arbeitsleistung von Eltern bei der Kindererziehung, die Hausarbeit, die unbezahlte Pflege von Angehörigen. Dabei schätzen Ökonomen, dass die Leistungen in diesem Bereich rund 40 Prozent des BIP entsprechen. Ehrenamtliche Arbeit fällt beim BIP genauso unter den Tisch.

Deshalb hat sich die Enquete-Kommission des Bundestages die Vermessung des Wohlstands auf die Fahnen geschrieben. Das Gremium soll einen neuen Indikator entwickeln, der das BIP ergänzt. Der Anspruch ist hoch: Acht verschiedene Aspekte sollen laut Antrag der Fraktionen von Union, FDP, SPD und Grünen zu einem Indikator zusammengefasst werden: der materielle Lebensstandard, die Qualität der Arbeit, die Verteilung von Wohlstand, der Zustand von Natur und Umwelt, die Chancen auf Bildung, die Lebenserwartung, die soziale Sicherung und die subjektiv empfundene Zufriedenheit der Deutschen.

Es könnte eine Art nationale Variante des "Human Development Index" (HDI) entstehen, den die Vereinten Nationen jährlich veröffentlichen. Neben dem Wirtschaftswachstum fließen beim HDI auch Bildungsgrad und Lebenserwartungen mit ein.

Wohlfahrtsökonomie

Dieser Teilbereich der Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit den Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns und staatlicher Einflüsse auf das Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft sowie auf die Verteilung von Einkommen und Nutzen zwischen den Beteiligten. Unter Wohlfahrt versteht man die Deckung der Grundbedürfnisse eines Menschen und ein gewisses Wohlergehen.

Der Stiglitz-Vorschlag

Auf Initiative von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hatten namhafte Ökonomen wie die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen vor einem Jahr Vorschläge für einen neuen Wachstumsindikator vorgelegt. Sie empfehlen, Daten nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus Sicht von Privathaushalten zu erheben. Einkommen und Konsum, Heimarbeit und ehrenamtliche Arbeit sollen einfließen. Zum Wohlergehen jedes Einzelnen zählen Stiglitz und seine Mitstreiter auch die Gesundheitsvorsorge, Freizeitmöglichkeiten, den Zugang zu Bildung und die Freiheit, sich politisch zu engagieren. Auf europäischer Ebene wollen Deutschland und Frankreich das Konzept jetzt weiterentwickeln.

Der Fortschrittsindex

Einen Vorschlag zur Berechnung eines neuen "Fortschrittsindex" machte kürzlich das Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt (in einer von der Deutschen Bank geförderten Studie). Er vereint die vier Komponenten Einkommen, Lebenserwartung, Schüler- und Studierendenquote sowie den so genannten ökologischen Fußabdruck. "Der Index zeigt, in welchen Bereichen ein Land erfolgreich war", sagt der Erfinder des Index, Stefan Bergheim. Deutschland liegt danach weltweit auf Platz 18, Defizite werden vor allem im Bildungsbereich gesehen.

Der NWI

Der Heidelberger Ökonom Hans Diefenbacher und der Berliner Politologe Roland Zieschank befassten sich im Auftrag des Umweltbundesamtes mit der Wohlfahrtsmessung und schufen den neuen "Nationalen Wohlfahrtsindex" (NWI). Die Forscher beziehen neben dem privaten Konsum auch den Wert unbezahlter Hausarbeit, ehrenamtliche Arbeit, den Verbrauch von Rohstoffen und die Kosten von Umweltschäden, Kriminalität und alkoholbedingten Krankheiten mit ein. Insgesamt sind es 21 Faktoren. Der NWI fällt stets kleiner aus als das BIP. In den letzten Jahren vor der Finanzkrise wuchs das BIP noch, während der NWI bereits schrumpfte.

Welcher Faktor darf es sein?

Kritiker werfen solchen Indizes vor, dass die Gewichtung einzelner Bestandteile willkürlich sei. Ökonom Bergheim vom Frankfurter Fortschrittszentrum sieht etwa ein Problem in den unterschiedlichen Einheiten, so sei es unzulässig, Lebensjahre, Prozent und Hektar in einer Gesamtrechnung zu verarbeiten. Problematisch sei auch die Messbarkeit: Der Ressourcenverzehr sei zu beziffern, soziale Gerechtigkeit dagegen nur schwer, sagt Bergheim.

Bruttonationalglück

Im Königreich Bhutan im Himalaya ist schon seit mehr als drei Jahrzehnten nicht das BIP, sondern das Bruttonationalglück (BNG) (Gross National Happiness) Zielgröße der Politik. Eine Kommission wacht darüber. Das BNG lässt sich allerdings kaum objektiv messen.

Thomas Korbun vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung ist  noch von keinem Vorschlag überzeugt. Schließlich müsse einem künftig allgemein anerkannten Wohlfahrtsindikator eine gesellschaftliche Leitvorstellung zugrunde liegen, die auch Wohlergehen und Glück des Einzelnen einbezieht. "Wie fasst man aber die Möglichkeit zu lieben oder eine Familie zu gründen?", fragt Korbun. Bergheim sieht den Weg als Ziel: "Die Suche nach einem Indikator dient dazu herauszufinden, wie wir künftig leben wollen und was uns wichtig ist."

Und auch eine andere Frage muss mit der Einführung eines neuen Indikators beantwortet werden: Soll zum Ziel erklärt werden, dass der neue Indikator steigt? Und bleibt die Steigerung des BIP ebenfalls Ziel?

Spannend wird sein, was die Politiker mit einem neuen Indikator anfangen werden. Der Hintergedanke: Wenn die Menschheit erst einmal andere Dinge als das BIP misst, dann folgt daraus auch eine andere Bewertung des Wachstums. Und damit eine andere Politik. Die wiederum könnte, wenn etwa Wohlergehen, Bildung und umweltschonendes Wirtschaften als Werte in einen Indikator geschnürt sind, der Wirtschaft entsprechende Rahmenbedingungen setzen. "Denn ein anderes Maß allein", sagt Ökonom Paech, "ändert gar nichts".