Zwei Zähne und eine Kniescheibe Kleinste Menschenaffenart entdeckt
Er wog nur etwa zehn Kilogramm, kletterte auf Bäume und fraß Blätter: Der kleinste bekannte Menschenaffe lebte in Süddeutschland. Das zeigen Funde aus dem Allgäu.
Manchmal reicht ein Fundstück, um alles bisherige Wissen durcheinanderzuwirbeln. In diesem Fall waren es drei: zwei Zähne und eine Kniescheibe.
Madelaine Böhme ist Professorin für Paläontologie an der Universität Tübingen sowie dem Senckenberg Zentrum für Humanevolution und Paläoumwelt. Zusammen mit einem internationalen Team hat sie die Zähne und Kniescheibe bei Ausgrabung in Pforzen im Allgäu gefunden. Seit dem Jahr 2011 legen sie hier nach und nach die Tierwelt einer Zeit von vor 11,6 Millionen Jahren offen.
Elefanten, Schildkröten, Menschenaffen
Zu dieser Zeit war Süddeutschland eine große, flache Landschaft, eher sumpfig, feucht. Das Klima war deutlich wärmer und feuchter als heute. Vom Süden, aus den Alpen führten Flüsse und Bäche Richtung Norden. Ein Bach befand sich damals im heutigen Pforzen im Ostallgäu.
Und die Tierwelt, die hier lebte, hat nur wenig gemein mit den Arten, die man heute in Deutschland finden würde: Es gab drei unterschiedliche Elefantenarten, Nashörner, Flughörnchen mit einer Spannbreite von über einem Meter. Große Schildkröten schwammen durch den Bach, Riesensalamander lagen am Rand. Es war eine Zeit mit einer sehr hohen Artenvielfalt, das zeigen die Ausgrabungen in einer alten Tongrube, der sogenannten "Hammerschmiede". Über 150 Wirbeltierarten haben die Forscherinnen und Forscher hier mittlerweile nachgewiesen - diese Artenvielfalt sei schon außergewöhnlich, so Böhme.
Wenig Beachtung für einen außergewöhnlichen Fund
Einen der besagten Zähne und die Kniescheibe fand das damals noch recht kleine Forschungsteam bereits bei der ersten Grabung. Es war klar, dass es sich um Reste eines Affen handeln müsste - doch die Forschenden ahnten nicht, was sie wirklich gefunden hatten. "Damals dachten wir, dass es sich um einen Altweltaffen der Gattung Pliopithecus handeln würde. Denn es war bekannt, dass solche Affen in dieser Zeit in Süddeutschland lebten - eine solche Affenart wäre also zu erwarten gewesen", so Paläontologin Böhme. Sie legten die Funde zunächst beiseite.
Doch 2017 kamen dann erste Zweifel auf. Denn da fanden sie Knochen von einem anderen Affen: "Danuvius guggenmosi" - der war deutlich größer und eindeutig ein Menschenaffe. Er konnte sich sogar bereits auf zwei Beinen fortbewegen. Könnte es sein, dass auch der kleine Affe ein Menschenaffe war?
Deutlich kleiner als alle bisher bekannten Menschenaffen
Schließlich tauchte ein weiterer, sehr kleiner Affenzahn auf - nicht einmal einen Zentimeter groß. Mit detaillierten Analysen konnten sie ihren Verdacht erhärten und schließlich auch die anderen Fachleute überzeugen: Der Zahn gehörte zur gleichen Art wie die ersten Funde. Und: "Das ist ein Menschenaffe, der so klein ist wie die damaligen kleinen Altweltaffen", so Böhme. Ihre Analysen wurden jetzt in der Fachzeitschrift PLOS One veröffentlicht.
"Buronius manfredschmidi" wurde die neue Art getauft. Die Fachleute schätzen, dass ein erwachsenes Tier dieser Art etwa zehn Kilogramm Körpergewicht aufwies. Wie genau der Affe aussah, darüber will Madelaine Böhme nicht spekulieren. Die bisherigen Funde ließen solche Mutmaßungen nicht zu.
Aber zum Vergleich: Ein Schimpanse wiegt etwa 50 Kilo. Und auch der andere Menschenaffe aus Pforzen, Danuvius, war deutlich größer und schwerer. "Damit ist Buronius der weltweit kleinste bekannte Menschenaffe - unter den lebenden und den ausgestorbenen Arten", so Böhme.
Spurensuche wie in der Kriminalistik
Zwei Zähne und eine Kniescheibe - das klingt nicht nach viel, für Paläontologen können sie aber eine Menge aussagen. "Man kann unsere Wissenschaft schon mit der kriminalistischen Forensik vergleichen", meint Böhme. "Auch da gibt es oft nur wenige oder verwischte Spuren. Aber mit modernster Forensik und etwas akribischem Gespür kann man einen Tathergang - oder eben als Paläontologen unsere Vergangenheit - rekonstruieren."
Dabei gebe es natürlich keine hundertprozentige Sicherheit - es gehe immer um Wahrscheinlichkeiten. "Wir können uns annähern und Hypothesen aufstellen. Bei Buronius war das glücklicherweise gar nicht so schwierig, da die Zähne eindeutig gezeigt haben, dass wir es in Pforzen mit zwei sehr unterschiedlichen Menschenaffenarten zu tun hatten." Dem deutlich größeren Allesfresser "Danuvius" und dem sehr kleinen Blattfresser "Buronius". Die unterschiedlichen Ernährungsformen konnten die Forschenden von der Dicke des Zahnschmelzes und der Form der Zahnkronen ableiten.
Und auch die gefundene Kniescheibe steckt voller Informationen: Bei Buronius ist sie zum Beispiel vergleichsweise dick und asymmetrischer als bei Danuvius. Buronius lief also nicht aufrecht, sondern war wahrscheinlich besonders gut an das Leben auf Bäumen angepasst. Um diese Details analysieren zu können, wurden die gefundenen Knochen in einem Computertomografen im Labor des Senckenberg Zentrums in Tübingen gescannt und anschließend mit bereits bekannten Arten verglichen.
Wie haben zwei Affenarten nebeneinander gelebt?
Doch es ist nicht nur die Größe, die diesen Fund zu etwas besonderem macht: "Es ist wirklich außergewöhnlich, dass mit Danuvius und Buronius zwei Menschenaffenarten gleichzeitig im selben Lebensraum gelebt haben", so Böhme. "Es ist das erste Mal, dass wir das fossil nachgewiesen haben. Und: Es ist auch noch in einer Region, in der wir das nicht erwartet hätten."
Heute gäbe es zwar zum Beispiel Regionen in Zentralafrika, wo Gorillas und Schimpansen im gleichen Lebensraum vorkommen. "Doch dabei handelt es sich um einen äquatorialen Regenwald - in Süddeutschland war es zwar vor 11,6 Millionen Jahren auch wärmer, doch wir befinden uns nördlich der Alpen. Hier gibt es dunkle Wintermonate, in denen der Laubmischwald im Herbst die Blätter abwirft. Das heißt: Das Futterangebot ist saisonal viel schwieriger."
Wahrscheinlich ermöglichten die unterschiedlichen Lebensformen der beiden Menschenaffen - dass sie andere Dinge aßen und sich anders fortbewegten - das gleichzeitige Überleben der Arten am selben Ort. "Wahrscheinlich machten sie sich keine Konkurrenz", erklärt Madelaine Böhme. Doch offensichtlich gebe es Prozesse bei der Entstehung von Biodiversität, die man noch nicht richtig versteht, so die Paläontologin. "Es ergeben sich jetzt viele neue Forschungsfragen, die es ohne diesen Fund nie gegeben hätte."