Welt-Adipositas-Tag "Übergewicht und psychische Probleme meist Hand in Hand"
Nicht nur ein bisschen zu dick, sondern stark übergewichtig. Weltweit sind mehr als eine Milliarde Menschen adipös. Betroffenen hilft oft nur eine radikale Lebensumstellung.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag. Nina Keller aus der kleinen Gemeinde Hamm am Rhein hält nichts in ihren eigenen vier Wänden. Die 44-Jährige dreht zügig ihre Runden im Grünen. Und das, obwohl sie frisch operiert ist. Vor nicht einmal zwei Wochen wurden der Physiotherapeutin und Intensivkrankenschwester bei einer Bauchdeckenstraffung zwei Kilo überschüssige Haut entfernt. Eines der letzten Überbleibsel aus ihrem früheren Leben.
Spätestens seitdem erscheint es nahezu undenkbar, dass die 1,69 Meter große, quirlige Frau mit dem bunten Tuch im Haar bis vor wenigen Jahren teilweise noch 163 Kilo gewogen hat. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag da bei 57. Ab einem BMI von 25 gilt man als übergewichtig. Mittlerweile wiegt Nina Keller nicht einmal mehr halb so viel wie früher. Sie sagt: "Neues Leben, neue Chance!" Mit den verlorenen Kilos kehrte auch die Lebensfreude zurück.
Teufelskreis aus Essen und Frust
Nina Keller war nicht immer dick. Als Kind und Jugendliche macht sie Leistungssport - Leichtathletik, Fünf- und Siebenkampf. Sie heiratet früh, bekommt zwei Kinder. Anfangs ist alles gut. Nach einigen Schicksalsschlägen, Stress im Job und im Privatleben verliert die zweifache Mutter jedoch immer mehr die Kontrolle über ihr Leben. Essen wird ihr Seelentröster und ihre Geisel. Sie bekommt Bluthochdruck, sich zu bewegen wird zunehmend zur Qual.
Immer häufiger bekommt sie ungefragt Ratschläge zu ihrem Gewicht. Sie mögen vielleicht gut gemeint sein, verletzen sie jedoch meistens. Nicht zuletzt aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung weiß die zweifache Mutter selbst bestens, was sie mit ihrer Fettleibigkeit dem Körper antut. Sie bekommt dramatischen Bluthochdruck, die Sorge vor Diabetes, Herzproblemen und anderen Folgeerkrankungen rauben ihr oft den Schlaf.
Die Kämpferin in ihr sagt den Kilos den Kampf an. Mal nimmt sie in Eigenregie 20 Kilogramm ab, dann wieder 30 zu. Ein Teufelskreis aus guten Vorsätzen, Frust, Selbsthass noch mehr essen beginnt. Als sie wegen einer schweren Krankheit notoperiert werden muss und Angst hat zu sterben, schließt sie mit sich selbst einen Pakt: "Wenn ich das hier überlebe, gehe ich meine Adipositas konsequent an." Rückblickend sagt sie: Es war allerhöchste Zeit, letztlich sei sie nicht nur körperlich krank gewesen, sondern auch depressiv.
Magenverkleinerung, Ernährungsumstellung - Sport: Wer Nina Keller heute sieht, kann sich kaum vorstellen, dass sie mal 163 Kilogramm wog.
Adipositas und Depressionen
"Nina Keller ist kein Einzelfall", sagt Johannes Oepen vom Adipositasnetzwerk Rheinland-Pfalz. "Krankhaftes Übergewicht und psychische Probleme gehen meist Hand in Hand." Patientinnen und Patienten würden häufig mehr essen, weil sie depressiv sind. Die mit der Fettleibigkeit verbundenen Kränkungen und der Rückzug in sich selbst wiederum würden die Depressionen noch verstärken.
Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin ist überzeugt: "Adipositas könnte die teuerste Krankheit werden, die wir haben." Denn: Neben den seelischen sind auch die möglichen körperlichen Folgeerkrankungen enorm.
Hohes Übergewicht kann sich in vielerlei Hinsicht negativ auf den Körper auswirken. Atemnot, Schlafapnoe, Gelenkschmerzen, hoher Cholesterinspiegel, Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt, Hirnschlag, Fettleber, entzündete Organe und ein höheres Krebsrisiko sind nur einige der Folgen, vor denen Medizinerinnen und Mediziner warnen. Mediziner Oepen sagt, besonders tückisch sei, dass man vieles davon erst spät mitbekomme: "Wenn sich beispielsweise die Leber verändert, dann merken sie das erst mal nicht."
Nicht faul und dumm
Fachleute sagen: Adipositas ist keine Folge von Willensschwäche, sondern eine ernstzunehmende, chronische Krankheit. Betroffenen dürfe nicht unterstellt werden, faul und dumm zu sein. Adipositas müsse ernsthaft behandelt werden. Verena Ursprung vom Adipositas-Zentrum der Klinik Worms betont, extremes Übergewicht bekomme man häufig nicht ausschließlich mit Bewegung und Ernährungsumstellung in den Griff.
Sie und ihre Kollegen arbeiten eng mit dem städtischen Gesundheitsnetz WOGE zusammen. Bei der Behandlung von Adipositas-Patientinnen und -Patienten setzen sie auf ein multimodales Konzept. Dazu gehören Ernährungsberatung, Sportprogramme, Selbsthilfegruppen, psychologische Betreuung, Beratung über medikamentöse Behandlungsmethoden und - als letzter Ausweg - Operationen. Nach Angaben von Medizinerin Ursprung sind diese sinnvoll ab einem BMI von 35 in Verbindung mit Nebenerkrankungen oder einem BMI ab 40.
Die Medizinerin erklärt, wenn der Magen verkleinert und der Verdauungsweg verkürzt werden, führe das nicht nur dazu, dass der Körper weniger Nahrung aufnimmt: "Weil hormonelle Faktoren über den Darm und das Gehirn das Hunger- und das Appetitgefühl steuern, ändert sich nach einem chirurgischen Eingriff natürlich auch auf der Ebene des Gehirns etwas." Nach einer Operation verringere sich darüber hinaus nicht nur das Gewicht. Weil sich auch der Stoffwechsel verändere, bilde sich beispielsweise Zuckerkrankheit zurück.
Operation kein Allheilmittel
Klar ist jedoch auch: Eine Operation ist ein großer Eingriff, der zahlreiche Nebenwirkungen haben kann. Außerdem müssen Operierte ihr Leben lang Nährstoffe zuführen: Dadurch, dass sie weniger essen, nehmen sie auch nicht mehr genügend Vitamine und Mineralstoffe auf. Eine dauerhafte Nachsorge ist unerlässlich.
Ohnehin bleibe man sein ganzes Leben adipös, sagt Marion Rung-Friebe vom Adipositas Verband Deutschland. Auch sie hat sich operieren lassen. Ein Eingriff könne eine Möglichkeit sein, unter sein vorheriges krankhaft übergewichtiges Leben einen Schlussstrich zu ziehen, quasi neu anzufangen. Dauerhaft gehe es ohne Sport und Psychotherapien aber nicht, betont Rung-Friebe. Nur so erreiche man dauerhaft ein Wohl- und Sättigungsgefühl, lebe nicht wie während einer Diät ständig im Hungermodus.
Adipositas-Patientin Nina Keller hat sich den Magen verkleinern lassen, ihre Ernährung umgestellt, macht wieder Sport. Wer sie heute sieht, kann sich kaum vorstellen, dass sie mal 163 Kilogramm wog. Die 44-Jährige kann sich hingegen noch sehr gut erinnern, wie wertlos, einsam und hässlich sie sich lange Zeit gefühlt hat. Und wie weh abschätzige Blicke und kritische Bemerkungen tun können. Ihr Appel an andere Betroffene: "Geht raus aus eurem Schneckenhaus, sucht euch Hilfe, ihr seid nicht allein. Wir sind viele!"