Interview zur Zwangsheirat in Deutschland "Die Familienehre steht über allem"
Wie viele Menschen gegen ihren Willen verheiratet werden, weiß niemand. Auch eine neue Studie für Familienminsterin Schröder bleibt die Antwort schuldig. Allerdings gibt es Zwangsheirat nicht nur in Einzelfällen. ARD-Korrespondent Matthias Deiß erklärt im Interview mit tagesschau.de die Hintergründe
tagesschau.de: Das Thema "Zwangsheirat" sorgt immer wieder für Schlagzeilen und stellt Migranten und Ausländer oft genug unter Generalverdacht. Wird das Problem Ihrer Meinung nach unter- oder überschätzt?
Matthias Deiß: Weder noch. Es gibt zwischen jungen Türkinnen und Türken oder zwischen Deutschtürkinnen und Deutschtürken absolute Liebesheiraten: Leute, die sich ganz normal verlieben, beschließen zu heiraten und eine glückliche Ehe führen. Deshalb wäre ein Generalverdacht falsch. Auf der anderen Seite werden Frauen, aber auch Männer immer noch zwangsverheiratet, und das sind keine Einzelfälle. Meist geschieht das so im Alter von 15 Jahren, wenn die Jugendlichen noch zur Schule gehen. Die Familie sucht dann einen "geeigneten" Ehepartner aus.
Wir haben den Fall Hatun Sürücü, die von ihrem Bruder erschossen wurde, recherchiert. Viele sagen, dass auch da eine Zwangsheirat gab. Wir haben anhand dieses Beispiels nachvollziehen können, warum das kulturell immer noch für sinnvoll erachtet wird.
Matthias Deiß, Jahrgang 1978, berichtet als ARD-Korrespondent aus Berlin. Nach Studium und Volontariat an der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete er zunächst als Parlamentskorrespondent für die Deutsche Welle, bevor er 2007 zum Rundfunk Berlin Brandenburg und zur ARD wechselte.
Zusammen mit Jo Goll recherchierte Deiß jahrelang, um die Hintergründe des Falls Sürücü nachzuzeichnen. Hatun Sürücü war 2005 von ihrem Bruder mitten in Berlin erschossen worden. Die Dokumentation "Verlorene Ehre - der Irrweg der Familie Sürücü" wurde als herausragendes europäisches Fernsehprogramm mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Zum Film ist im Verlag Hoffmann & Campe auch das Buch "Ehrenmord: ein deutsches Schicksal" von Matthias Deiß und Jo Goll erschienen.
tagesschau.de: Warum denn?
Deiß: Der Ehepartner soll bestimmte Kriterien erfüllen. Er muss vor allem dieselbe Religion haben, also Moslem sein. Er soll den strengen Familienverband stärken. Wenn er die Frau schon entjungfern darf, dann soll er auch ein Leben lang für sie und die Kinder sorgen und zur Ernährung der gesamten Familie beitragen. Das funktioniert am ehesten, wenn man einen Ehepartner aussucht, den man kennt. Der aus dem Familienumfeld oder aus dem engen Freundeskreis kommt. So jemand stiehlt sich nicht einfach aus der Verantwortung und lässt sich scheiden.
Dieses Prinzip ist in den kleinen Dörfern Ostanatoliens entstanden und hat sich dort bewährt. Es hält die Familien zusammen. Dass eine Großstadt wie Berlin inzwischen für eine Ehe ganz andere Voraussetzungen geschaffen hat, hat viele Menschen dort einfach noch nicht erreicht.
tagesschau.de: Sie haben es gerade schon angesprochen: Es gibt eine fließende Grenze zwischen Zwangsheirat und arrangierter Ehe. Wo würden Sie diese Grenze ziehen wollen?
Deiß: Bei einer arrangierten Ehe wird der Partner gemeinsam oder von den Eltern ausgesucht. Die beiden Ehepartner sind aber einverstanden. Bei einer Zwangsehe legen Eltern oder Brüder einen Partner fest und die Hochzeit wird gegen den Willen des anderen Partners vollzogen.
"Es verlangt viel Kraft, sich aus dem Familienbund zu lösen"
tagesschau.de: Zwangsheirat wird in Deutschland als eigener Straftatbestand verfolgt. Schützt das die betroffenen Frauen und Männer?
Deiß: Es schützt sie nur, wenn sie bereit sind, die eigene Familie anzuzeigen. Diesen Schritt zu gehen, ist wahnsinnig schwer. Das verlangt sehr viel Kraft, sich aus diesem Verbund zu lösen. Die Familie wird sie oder ihn danach verstoßen. Aber es geht ja um eine Familie mit einem engen und sehr traditionellem Zusammenhalt, sonst würde eine solche Zwangsheirat ja gar nicht in Betracht gezogen. Der Kulturkreis, in dem diese Menschen groß werden, zeigt ihnen immer wieder an, dass die Familie das Allerwichtigste ist. Viele beugen sich dem.
Die drängendste Frage lässt auch die jüngste Studie unbeantwortet: Niemand weiß, wie viele Menschen tatsächlich zur Heirat gezwungen werden. Im Auftrag des Familienministeriums haben Wissenschaftler aber untersucht, wer in entsprechenden Beratungsstellen nach Hilfe fragt. Erfasst wurden 2008 knapp 3.500 Personen in 830 Beratungsstellen. In 60 Prozent dieser Fälle muss von angedrohter Zwangsheirat ausgegangen werden. In 40 Prozent wurde die Zwangsheirat vollzogen.
Laut Studie sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 18 und 21 Jahren betroffen, die meisten davon Mädchen und Frauen. Viele davon sind Deutsche. Jungen und Männer werden ebenfalls zwangsverheiratet, suchen aber sehr selten eine Beratungsstelle auf. Fast immer spielt Gewalt bei der Durchsetzung der Zwangsheirat eine Rolle. Häufig müssen Schul- oder Berufsuasbildung abgebrochen werden.
Seit 2011 wird Zwangsheirat als eigenständiger Straftatbestand im Gesetz aufgeführt. Es droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.
tagesschau.de: Wer sich gegen eine Zwangsheirat wehrt, verletzt die Familienehre, so die gängige Argumentation. Würden Sie sagen, dass der Ehrbegriff missbraucht wird?
Deiß: Nein. Aber die Familien, die eine Zwangsheirat vollziehen, haben eine sehr traditionelle Auffassung von Ehre und sind eben nicht, wie viele andere, im Westen angekommen. Danach steht die Familienehre über allem. Und in erster Linie versteht man unter Familienehre die Jungfräulichkeit der eigenen Töchter, die von allen Familienmitgliedern und besonders von den Brüdern und dem Vater, geschützt wird. Deswegen ist eine frühe Hochzeit, eine früh arrangierte Ehe, eine gute Möglichkeit, diese Ehre zu wahren. Je früher Kinder verheiratet werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen und für den Rest ihres Lebens gut versorgt sind.
Der Wille solcher Eltern ist erstmal kein böser. Sie versuchen, ihre Kinder gut zu versorgen. Aber sie tun das nach einem sehr traditionellem Verständnis, was nicht nach dem Willen der Kinder ausgerichtet ist.
"Erhöhte Aufmerksamkeit hilft"
tagesschau.de: Wird die Zahl der Zwangsverheiratungen eher zu- oder eher abnehmen?
Experte Deiß: "Die Zahl der Zwangsehen wird abnehmen."
Deiß: Die Zahl wird abnehmen, auch wenn wir in Berlin Kreuzberg vermehrt junge Frauen mit Kopftüchern sehen. Viele Jugendliche wachsen in einem modernen, freien Staat auf und sind sich der Vorteile dessen bewusst. Nur eine kleine Zahl bleibt den alten Strukturen verhaftet.
tagesschau.de: Die freie Wahl des Ehepartners ist verbrieftes Menschenrecht. Was hilft tatsächlich, dieses Recht durchsetzen?
Deiß: Eine erhöhte Aufmerksamkeit von Behörden und Kontaktpersonen hilft. Wenn zum Beispiel Schülerinnen der siebten oder achten Klasse nach den Sommerferien und einem Urlaub in der Türkei nicht zurück kommen, müssen die Lehrer nachfragen. Gerade im Falle von deutschen Staatsbürgerinnen gibt es dann auch Möglichkeiten nachzuhaken.
Auch das deutsche Konsulat in Istanbul, das wir besucht haben, hat Maßnahmen getroffen, und die sind gar nicht aufwändig. Wenn zum Beispiel eine Frau oder ein Mann aus der Türkei in Deutschland zwangsverheiratet werden soll, dann haben sie während der Beantragung des Visums Gelegenheit, den Beamten ein Zeichen zu geben. Sie sind nämlich während der Antragstellung allein, ohne die Familie. Wenn die Beamten ein solches Signal bekommen, dann können sie zum Beispiel die Erteilung des Visums hinauszögern. Oft hat sich dann das Problem nach einem halben Jahr erledigt.
Die Fragen stellte Ute Welty, tagesschau.de