Hintergrund

Georgische Streitkräfte in Afghanistan Hohes Risiko für ein bisschen NATO

Stand: 10.06.2016 05:31 Uhr

Zu den größten Truppenstellern der NATO-Mission in Afghanistan zählt: Georgien. Dessen Soldaten beteiligen sich an der riskanten Aufgabe, die Militärbasen zu sichern. Die ersehnte NATO-Mitgliedschaft bleibt jedoch fern.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de

Obst- und Gemüsestände, mit grauen und grünen Planen abgeschirmt vor der sengenden Sonne, wenige Menschen unterwegs, parkende Autos entlang einer Straße, auf deren Mittelstreifen Betonkübel mit Grünpflanzen stehen - der Basar von Bagram 50 Kilometer nordöstlich von Kabul wirkt friedlich.

Und doch ist es ein sensibler Ort, denn die Straße führt zu einem Tor der Militärbasis Bagram, dem Hauptquartier der US-Streitkräfte und dem Luftdrehkreuz für die NATO-Mission "Resolute Support" in Afghanistan.

Hunderte Afghanen kommen täglich zur Arbeit aus den umliegenden Dörfern auf die Basis. Sie ist groß wie eine Kleinstadt und mit haushohen Betonmauern geschützt wie eine Festung. Die afghanischen Arbeiter durchlaufen vier Sicherheitskontrollen. Am Abend kehren sie auf einen schmalen Weg heim, der mit einem Stacheldrahtverhau versehen einem Käfig gleicht.

Einerseits sollen möglichst viele Afghanen ein Auskommen auf der Basis finden. Andererseits könnte jeder von ihnen ein Sicherheitsrisiko sein. "Jeder da draußen könnte ein Taliban sein", sagt der diensthabende Soldat auf dem Wachturm am Tor.

Über der Basis schweben zwei Ballons mit Kameras, die jede Bewegung außerhalb der Mauern beobachten können. Nachts fliegen in regelmäßigen Abständen Helikopter das Gelände ab, um mögliche Angreifer zu entdecken.

Die scharfe Überwachung sorgt für Unmut bei den Menschen in den Dörfern rings um die Basis. Den Ärger zu spüren bekommen die Soldaten, die auf Patrouille nach draußen gehen. Sie versuchen dann zu erklären, warum dies notwendig und weshalb die NATO-Mission sinnvoll ist.

NATO-Mission "Resolute Support"

Die Mission "Resolute Support" begann am 1. Januar 2015 als Nachfolgemission des ISAF-Einsatzes in Afghanistan. Es ist kein Kampfeinsatz mehr wie die ISAF-Mission. Ziel ist es vielmehr, die afghanischen Sicherheitskräfte mit Training, Beratung und Unterstützung darin zu stärken, selbst Verantwortung zu übernehmen. An dem Einsatz beteiligt sind mehr als 12.000 Soldaten aus 42 Nationen. Die Bundeswehr bildet in Masar-I-Scharif afghanische Soldaten aus.

Vertrauen in georgische Soldaten

Von den Tausenden ausländischen Mitarbeitern auf der Basis gehen die wenigsten nach draußen oder kommen auch nur in die Nähe der Außenmauern. Es bleibt den Soldaten vorbehalten, die die Sicherungsaufgaben für die Militärbasis wahrnehmen.

Dazu zählen in Bagram und anderen Militärbasen Hunderte Soldaten aus Georgien. Obwohl noch kein NATO-Mitglied, war die Südkaukasusrepublik nach offiziellen Angaben der Allianz im Jahr 2015 mit 870 Soldaten zweitgrößter Truppensteller der Mission in Afghanistan - noch vor Deutschland mit 850 Soldaten.

Stolz ist Oberst Alexander Kiknadze darauf, dass seine Soldaten unter US-Kommando auch zur Bewachung des Hauptquartiers in Kabul beitragen. Es zeige, wie viel Vertrauen ihnen entgegengebracht werde, sagt der Georgier, der schon in der Vorgängermission ISAF in Helmand eingesetzt war, wo die Taliban am stärksten sind.

Ausbildung in Deutschland

Auch zur Sicherung des deutschen Camps in Masar-i-Sharif sind mehr als 100 Soldaten der georgischen Streitkräfte eingesetzt, und zwar unter dem Kommando der Bundeswehr.

"Sie stellen dort einen bedeutenden Teil der Quick Reaction Force, der schnellen Eingreiftruppe", sagt Oberstleutnant Olaf Riegel, der im Hauptquartier in Kabul arbeitet. "Die Zusammenarbeit gestaltet sich sehr fruchtbar und sehr erfolgreich. Regelmäßige gemeinsame Übungen erhöhen die Effektivität." Georgien sei eine von 20 Nationen, die im Norden Afghanistans eingesetzt seien.

Vorbereitet auf den Einsatz in Masar-i-Sharif werden die georgischen Soldaten im Gefechtsübungszentrum des Heeres bei Magdeburg. Sie durchlaufen ein fünfmonatiges Training, bevor sie für sechs Monate nach Afghanistan gehen.

In Afghanistan unterstützt Deutschland die Georgier unter anderem mit Personal- und Materialtransporten, so ein Sprecher der Bundesverteidigungsministeriums in Berlin. Zudem stelle Deutschland geschützte Fahrzeuge sowie eine Zusatzausstattung. "Die persönliche Ausrüstung und in der Regel auch die Handwaffen bringen die georgischen Soldaten selber mit", erläutert der Sprecher.

5,5 bis 6 Millionen Euro gibt die Bundesrepublik laut gut unterrrichteten Kreisen pro Einsatz für Ausbildung, Transport und Versorgung der georgischen Soldaten aus. Das Bundesverteidigungsministerium will die Angabe so konkret nicht bestätigen: Die Ausgaben für die Ausbildung würden nicht gesondert erfasst, denn sie würden aus größeren Haushaltstiteln bestritten.

Entlastung für die Bundeswehr

Für die Bundeswehr und andere NATO-Mitgliedsstaaten ist der Einsatz der georgischen Streitkräfte eine Entlastung. Doch was hat die Ex-Sowjetrepublik davon? Georgien mit seinen 3,8 Millionen Einwohnern zahlt in Afghanistan wie viele andere Nationen einen hohen Preis: 31 Georgier starben infolge des Einsatzes in Afghanistan. Zuletzt wurde 2015 in Bagram ein Soldat von einem Scharfschützen getötet.

Doch trotz des Versprechens beim Bukarester NATO-Gipfel 2008 hat Georgien in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Mitgliedschaft. Die Nachbarschaft zu Russland und zwei ungelöste territoriale Konflikte sind dabei nur ein Aspekt. Ein anderer wichtiger Faktor ist die Bereitschaft innerhalb der NATO-Staaten, füreinander einzustehen und darüber hinaus neue Verbindlichkeiten einzugehen.

So ergab eine kürzliche Umfrage des Pew Research Centers, dass es in der Bevölkerung westlicher NATO-Staaten nur eine begrenzte Bereitschaft gibt, auch nur die östlichen Mitgliedsstaaten zu verteidigen.

Die NATO setzt deshalb darauf, die Fähigkeiten Georgiens zur Selbstverteidigung und zur Kooperation mit der NATO zu stärken. Dazu verabschiedete der NATO-Gipfel 2014 in Wales ein "substanzielles Paket" für Georgien, an dem sich 20 NATO-Staaten beteiligen. Es beinhaltet zum Beispiel den Aufbau eines gemeinsamen Trainingszentrums in Georgien, die Stärkung der Luftverteidigung oder auch das Thema strategische Kommunikation.

Chef des Kern-Teams zur Umsetzung des Pakets in Tiflis ist der deutsche Oberst Thorsten Köhler. Er erzählt, dass das Paket auf eine deutsche Idee zurückgeht und betont, dass es zur Stabilisierung in der Region beitragen soll.

Forderungen nach "strategischer Geduld"

Ein Ziel der Ausbildung auch für die Vorbereitung auf die Einsätze in Afghanistan ist die Etablierung moderner Führungsstrukturen innerhalb der Armee, sowie die Soldaten im selbständigen Handeln zu schulen - weg vom puren Befehlsgehorsam nach sowjetischer Manier hin zum Ausführen von Aufträgen, wobei die Soldaten selbstständig entscheiden, wie sie das Ziel erreichen.

Die Anwendung solcher Fähigkeiten und der Umgang mit realen Kampfsituationen in Afghanistan seien wichtige Erfahrungen auch für die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen, erklärt ein Mitarbeiter der US-Armee in Bagram.

Georgische Soldaten berichten begeistert vom Training in Deutschland. Einige sprechen Deutsch und wollen ihre Ausbildung in der Bundesrepublik fortsetzen. Auch die georgische Verteidigungsministerin Tina Khidascheli lobt die Kooperation mit der Bundeswehr. Doch in der Öffentlichkeit Georgiens spielt dieses deutsche Engagement keine Rolle.

Wahrgenommen werden vielmehr Forderungen aus Deutschland, sich hinsichtlich der ersehnten NATO-Mitgliedschaft in "strategischer Geduld" zu üben. So bringt Khidascheli auch die Enttäuschung zum Ausdruck, die in der Bevölkerung und unter Soldaten zu spüren ist.

Sie gibt allerdings zu, es habe in Georgien vor allem unter Vorgängerpräsident Michail Saakaschwili unrealistische Vorstellungen gegeben. Diese hätten jedoch auch ausländische Politiker geschürt. Inzwischen sei man realistischer, aber eben auch pessimistischer geworden.

Die Hoffnung aufgeben wollen sie und die georgischen Soldaten nicht, die fern der Heimat ihr Leben aufs Spiel setzen. Viele Georgier sagen mit Trotz in der Stimme: Wir werden so lange an die Tür der NATO klopfen, bis sie aufgeht.