Interview

Interview zur Situation in Afghanistan "Der Westen unterstützt eine korrupte Regierung"

Stand: 15.12.2011 16:43 Uhr

Die Bundesregierung verweist auf wichtige Erfolge in Afghanistan. Der deutsche Afghanistan-Experte Thomas Ruttig kritisiert dagegen: Der zivile Aufbau komme nicht voran. Die internationale Gemeinschaft sei schuld daran, dass Korruption und Gewalt im Land eskalieren, so Ruttig im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Die Afghanistan-Bilanz der Bundesregierung fällt positiv aus. Das Land stehe besser da als vor einem Jahr und erst recht besser als vor zehn Jahren – stimmt das?

Thomas Ruttig: Sicher gibt es Fortschritte in Afghanistan, zum Beispiel im Bildungsbereich und in der Gesundheitsvorsorge. Aber die Sicherheitsprobleme unterminieren die Fortschritte wieder. Viele Familien wagen es nicht mehr, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Frauen werden wieder öfter von ihren Männern daran gehindert, zum Beispiel einen Arzt aufzusuchen. In den entlegeneren Gebieten lässt die Gesundheitsversorgung nach, weil das medizinische Personal dort nicht arbeiten will - aus Angst vor Anschlägen und Gewalt. Denn auch die Hilfsorganisationen geraten in die Mühlen zwischen den Taliban einerseits, den regierungstreuen Kräften und ihren internationalen Verbündeten andererseits.

tagesschau.de: Also wird das, was schon erreicht wurde, durch die momentane Sicherheitslage wieder zerstört?

Zur Person

Thomas Ruttig ist Ko-Direktor des "Afghanistan Analysts Network" mit Sitz in Berlin und Kabul. Er hat in den vergangenen Jahren die UNO, die EU und die deutsche Botschaft in Kabul beraten und zahlreiche Publikationen zum Konflikt in Afghanistan veröffentlicht.

Ruttig: So sehen es viele Afghanen. Sie haben gute Gesetze, aber die stehen nur auf dem Papier und werden oft überhaupt nicht umgesetzt. Die Institutionen sind nicht offen für die Bevölkerung. Viele fühlen sich ausgegrenzt und nicht durch die Regierung vertreten. Es gibt eine große Polarisierung im Land. Die Karsai-Regierung und ihre Verbündeten einerseits, die Opposition aus ehemaligen Mudschaheddin andererseits, die oft noch mit illegal bewaffneten Gruppen verbündet sind.

"Der Abzugstermin ist völlig willkürlich gesetzt"

tagesschau.de: Wie sinnvoll ist es dann, die internationalen Truppen und mit ihnen die Bundeswehr schrittweise aus dem Land abzuziehen?

Ruttig: Der Abzugstermin ist willkürlich gesetzt und entspricht nicht den derzeitigen Bedürfnissen im Land. Das Ausland wird jetzt mit seinen Fehlern konfrontiert: Aufgabe der Bundeswehr und der ISAF gleich nach dem Sturz der Taliban wäre gewesen, Sicherheit herzustellen. Aber die Milizen wurden nicht konsequent entwaffnet, so wie es die Bonner Afghanistankonferenz 2001 vorgesehen hatte. Die Gewaltakteure wurden in den Wiederaufbau und die neuen Strukturen eingebunden. So konnten sie sich in das neue System integrieren und dominieren es mittlerweile mit politischer, ökonomischer und militärischer Macht.

"Ein großer Teil des Geldes landet im militärischen Bereich"

tagesschau.de: Die Deutschen stecken viel Geld in den Wiederaufbau des Landes. Landet diese Hilfe dort, wo sie gebraucht wird?

Ruttig: Zwei Drittel des Afghanistan-Budgets fließen in den militärischen Bereich: in den Aufbau der afghanischen Sicherheitsapparate und natürlich auch in die eigene militärische Infrastruktur. Nur wenig Geld landet im zivilen Bereich. Das ist sehr problematisch. Der zivile Aufbau wird zugunsten des Kampfes gegen die Aufständischen vernachlässigt.

tagesschau.de: Sie sind oft im Land, verbringen die Hälfte des Jahres in Afghanistan. Wie erleben Sie die Menschen?

Ruttig: Ich spüre eine große Verunsicherung und Angst unter den Afghanen, dass ihr Land erneut zusammenbricht und in einen noch blutigeren Bürgerkrieg zurückfällt. Das lähmt die Menschen und führt dazu, dass sie sich nicht engagieren. Es fehlt die Überzeugung, dass sich das lohnt. Ich erlebe eine zunehmende Hoffnungslosigkeit.

"Eine drastische Verschärfung der sozialen Gegensätze"

tagesschau.de: Profitieren die Menschen nicht von den finanziellen Hilfen aus dem Ausland?

Ruttig: Wir beobachten eine drastische Verschärfung der sozialen Gegensätze, die es früher in dieser Gesellschaft, die eigentlich relativ egalitär strukturiert ist, nicht gegeben hat. Eine kleine Gruppe von Leuten, die mit der Regierung verbunden sind, profitiert von den Hilfsmaßnahmen. Sie sind die Gewinner. Der Großteil der Bevölkerung profitiert nicht von den Geldern - im Gegenteil. Die Preise, die Mieten steigen, viele Menschen können sich das Alltägliche nicht mehr leisten.

tagesschau.de: Zugespitzt heißt das, die Bundesregierung unterstützt mit ihren Geldern die Korruption?

Ruttig: Die mangelnde Kontrolle über die Verwendung der Gelder befeuert die Korruption. Es werden die Gruppen bevorzugt, die mit der afghanischen Regierung und ihren Sicherheitsapparaten zusammenarbeiten. Sie können sich lukrative Aufträge sichern und sich bereichern. Außerdem versickern viele Entwicklungsgelder, weil im afghanischen Gesetz nicht genau genug zwischen kommerziellen und gemeinnützigen Aktivitäten unterschieden wird.

"Eine neue Elite, die sich finanziell bereichert"

tagesschau.de: Profitieren von deutschem Geld auch die Drogenbarone in Afghanistan?

Ruttig: Viele afghanische Akteure, die mit ihren Sicherheitsfirmen die großen Verträge abgreifen, sind über die Familienstrukturen auch in den Drogenhandel verstrickt. Es gibt eine neue Elite im Land, die gar nicht am Aufbau von Demokratie und Zivilgesellschaft interessiert ist, sondern am Ausbau der eigenen Macht und an finanzieller Bereicherung. Und genau diese Elite wird vom Ausland unterstützt.

Zivilgesellschaftliche Akteure müssen eingebunden werden

tagesschau.de: Müssten also die Bundesregierung und die Internationale Gemeinschaft mehr Druck und Kontrolle ausüben?

Ruttig: Die Regierung Karsai müsste viel stärker in die Pflicht genommen werden, den Aufbau der sozialen Infrastruktur, von Schulen und medizinischer Versorgung voranzutreiben. Und der Charakter der Hilfen muss sich ändern. Wir müssen weg von dem Fokus auf die Sicherheitspolitik und dafür sorgen, dass die afghanische Gesellschaft pluralistischer wird; dass die Polarisierung zwischen einer korrupten Regierung in Kabul und der terroristischen Aufstandsbewegung aufgehoben wird; dass sich eine politische Mitte bilden kann. Es gibt ja zivilgesellschaftliche Akteure in Afghanistan, die sich um den Aufbau von Schulen und demokratischen Strukturen kümmern. Sie führen aber ein Schattendasein und werden vom Ausland unzureichend unterstützt. Diese sozialen Kräfte müssen stärker eingebunden werden. Stattdessen aber unterstützt der Westen eine korrupte Regierung, die immer wieder gegen internationale Verpflichtungen aus Konferenzen wie der jüngsten in Bonn verstößt.

tagesschau.de: Wie lautet Ihre Prognose für die Entwicklung im Land?

Ruttig: Leider gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die internationale Gemeinschaft ihr Vorgehen in Afghanistan ändert und die afghanische Regierung Reformwillen und Engagement beim Kampf gegen die Korruption zeigt. So könnte sich der Bürgerkrieg weiter verschärfen, und die afghanische Regierung wird die Korruption weiter bedienen. Alle Faktoren laufen auf diese eher düstere Prognose hinaus.

Das Gespräch führte Simone von Stosch, tagesschau.de