Menschenhandel Kenias verschwundene Kinder
In Kenia verschwinden jedes Jahr Tausende Kinder. Es zeichnet sich ein Muster ab: Die Kinder werden entführt und verkauft. Hoffnung stiftet eine NGO, die fast 1.100 vermisste Kinder mit ihren Familien wiedervereinigt hat.
In den Mukuru-Slums am Rande des Industriegebiets von Nairobi leben Hunderttausende unter den widrigsten Bedingungen. Es ist schwer, hier über die Runden zu kommen. Einige haben Glück und betreiben ein kleines Geschäft, indem sie am Straßenrand alles Mögliche verkaufen: Schuhe, Hühner, Werkzeug.
Dass Kinder regelmäßig verschwinden, ist hier ein großes Thema. Jeder hier wisse, dass Kinder verloren gehen, sagt Miriam Josiah, die am Straßenrand Kohlebriketts verkauft: "Das Kind von Modestar, das gerade verloren gegangen ist, ist jetzt drei Monate weg und wurde noch nicht gefunden. Ein anderes Kind, ein Mädchen, ist erst kürzlich um die Ecke verschwunden; auch sie wurde nicht gefunden. Wir sind alle sehr besorgt."
In ständiger Angst
Modestar Lumbasi wohnt um die Ecke in einer Wellblechhütte. Man muss den Kopf einziehen, wenn man sie besuchen will, um sich nicht an den scharfen Kanten des überstehenden Blechs zu schneiden. Noch vor wenigen Monaten spielte hier auch ihr dreijähriger Sohn Peter.
Doch Mitte Dezember verschwand er spurlos, erzählt die 30-Jährige - direkt vor ihrer Hütte. Seitdem lebt Lumbasi in ständiger Angst um ihr anderes Kind, ein sechs Monate altes Mädchen. Sie trägt es meist in einem Wickeltuch, eng an ihren Körper gebunden. Sie könne es "nicht einmal für eine Sekunde allein lassen", sagt sie, ganz gleich, wohin sie gehe. Selbst, wenn sie die Toilette aufsuche, müsse sie das Kind mitnehmen - oder im Haus einsperren.
In Nairobis Mukuru-Slum kennen die Händlerinnen viele Geschichten von verschwundenen Kindern.
Die Folgen des Verlustes
Modestar Lumbasi sagt, sie gebe die Hoffnung nicht auf, obwohl sie in einer prekären Situation stecke. Früher habe sie am Straßenrand Schuhe verkauft, sagt sie. Doch seit ihr Kind weg ist, könne sie einfach nicht mehr arbeiten. Ihr Mann halte ihr deshalb vor, dass sie offenbar viel Geld habe und deshalb nicht nach Arbeit suche. Manchmal gehe er einfach weg, ohne ihr etwas zum Essen dazulassen.
Peter Lumbasi ist eines von Tausenden Kindern und Jugendlichen, die jedes Jahr in Kenia verschwinden. Offizielle, öffentlich zugängliche Statistiken dazu existieren nicht. Auch die Anfragen der ARD bei den staatlichen Behörden bleiben unbeantwortet. In einem Interview im Mai 2023 erwähnt eine kenianische Ministerin jedoch, dass allein im Zeitraum von Juli 2022 bis Mai 2023 6.841 Vermisstenfälle gemeldet worden seien. Davon seien nur knapp 1.300 Kinder wieder nach Hause zurückgekehrt.
Das entspricht einer Aufklärungsquote von 19 Prozent. Zum Vergleich: Auch in Deutschland verschwinden jedes Jahr Tausende Kinder und Jugendliche, jedoch werden laut Angaben des BKA etwa 97 Prozent von ihnen wiedergefunden.
Modestar Lumbasi wartet verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihrem verschwundenen Sohn Peter.
Die Täter werden vorsichtiger
Die kenianische Journalistin Njeri Mwangi hat 2020 für die BBC aufgedeckt, dass Kinder im großen Stil entführt und an kinderlose Familien verkauft werden. Die Recherche löste eine Welle der Entrüstung aus, ein Täter wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt. Doch viel mehr sei nicht geschehen, und Mwangi vermutet, dass die Babydiebe jetzt viel vorsichtiger geworden sind. Es gebe ein ganzes Netzwerk von Tätern - man wisse nicht, wer die Kinder stiehlt und wo sie hinkommen.
Mwangi beklagt, dass sich die Gesellschaft in Kenia zum Negativen verändert habe. Lange Zeit habe sich die gesamte Gemeinschaft um Kinder gekümmert, nicht nur die Eltern. Nach dem Motto: Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.
Doch heute seien die Menschen mehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Es müsse sich also einiges bewegen, bei den Behörden, aber auch in der gesamten Gesellschaft, sagt die 43-Jährige.
Njeri Mwangi befürchtet, dass die Kinderdiebe weiterhin systematisch vorgehen - nur vorsichtiger.
Eine Organisation sucht
Die betroffenen Familien hingegen machen der Polizei Vorwürfe, zu langsam zu reagieren und wenig Interesse zu zeigen, wenn es sich um Kinder aus armen Familien handelt. Hier kommt Maryana Munyendo ins Spiel. Sie leitet die spendenfinanzierte Organisation Missing Child Kenya und hilft verzweifelten Eltern.
Mit fünf Mitarbeitern sorgt sie dafür, dass möglichst schnell nach den Kindern gesucht wird, vor allem über das Internet. Munyendo bezeichnet Missing Child Kenya als eine Organisation, die von der Gemeinschaft getragen werde. Schließlich sei sie darauf angewiesen, dass ihre Suchmeldungen weiterverbreitet würden. Sie versuche, den Menschen zu verdeutlichen, "dass sie auch unsere Augen und Ohren im Feld sind".
An 1.548 Vermisstenfällen hat Missing Child Kenya in den vergangenen acht Jahren gearbeitet. Fast 1.100 dieser vermissten Kinder konnten mit ihren Familien wieder vereint werden. Im Schnitt nimmt die Organisation zur Zeit jeden Tag einen neuen Fall auf. Den kleinen Peter Lumbasi konnte Missing Child Kenya bis heute nicht finden.
Eine Befreiung macht Hoffnung
Doch in dieser Woche gelang der Polizei in Nairobi ein seltener Fahndungserfolg und Peters Mutter Modestar bekam einen kleinen Hoffnungsschimmer. Nach einem Hinweis befreit die Polizei Kinder aus einem Haus am Rande der Stadt. Zunächst hieß es, 16 Kinder seien befreit worden. Nach ARD-Informationen dürfte es sich um eine deutlich höhere Zahl handeln. Eine Kenianerin und ein Mann aus Tansania wurden festgenommen. Die Polizei geht davon aus, dass sie einem Menschenhändlerring angehören.
Ist Peter unter den gefundenen Kindern? Modestar eilt zusammen mit anderen Eltern umgehend zur zuständigen Polizeiwache. Wie lange es dauern wird, bis die gefundenen Kinder identifiziert sind, kann ihr dort aber niemand sagen: "Sie haben gesagt, ich muss warten. Ich bin nicht sauer. Ich werde warten. Sie machen auch nur ihren Job."
Mitarbeit: Anne Fleischmann und Patrick Gatua