UN-Kriegsverbrechertribunal Völkermordprozess nach 26 Jahren Flucht
Er war einer der meistgesuchten mutmaßlichen Drahtzieher des ruandischen Genozids: Nun muss sich Félicien Kabuga in den Niederlanden vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal verantworten. Die Beweislage ist kompliziert.
Gilbert Masengo ist die Trauer fast 30 Jahre nach dem Verbrechen noch anzusehen. 1994 hätten Hutu-Milizen seine Mutter, seine Brüder und seine Schwester getötet, erzählt der Ruander in der Netflix-Dokumentarserie "World’s Most Wanted". Mit Macheten waren selbst Kinder zerstückelt worden, oder man verbrannte sie bei lebendigem Leibe, Hunde fraßen später die Leichenteile.
Die Vereinten Nationen schätzen, dass damals mindestens 800.000 Menschen getötet wurden - mehrheitlich der Tutsi-Ethnie angehörend, aber auch oppositionelle Hutu. Dokumente beweisen, dass die Macheten, die letztlich als Todeswaffen genutzt wurden, von einem Mann ins Land gebracht wurden: Félicien Kabuga, einem reichen Geschäftsmann und ehemaligem Vertrauten des damaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana.
Kabuga gilt als "Finanzier des Völkermords"
Kabuga soll nicht nur die mordenden Hutu-Milizen Interahamwe mit Geld und Uniformen ausgestattet haben, er war auch Mitgründer des Rundfunks Mille Collines. Dort verlasen Moderatoren Listen von Namen und Aufenthaltsorten von Tutsi, die getötet werden sollten. Sie wurden als "Kakerlaken" bezeichnet und entmenschlicht. Kabuga brachte es den Ruf als "Finanzier des Völkermords" ein.
Er weist die Vorwürfe bis heute als "Lüge" zurück. Vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag muss sich der heute 89-Jährige nun verantworten. Ihm werden Völkermord sowie Genozid-Verabredung und Mittäterschaft vorgeworfen.
Zwar seien die Indizien erdrückend, sagt Filip Reyntjens, emeritierter Politikwissenschaftler an der Universität Antwerpen tagesschau.de. Aber: "Das Problem der Anklage wird sein, eine direkte Verwicklung Kabugas in den ruandischen Genozid nachzuweisen."
Für den Import von Hunderttausenden Macheten ist Kabuga nicht angeklagt. Ruanda ist ein Land, in dem die Menschen mehrheitlich von der Landwirtschaft leben. "Die Ankläger konnten nicht nachweisen, dass die Macheten damals importiert und ausgegeben wurden, um damit Menschen zu töten", erklärt Reyntjens.
26 Jahre Flucht
Mit seinem Reichtum etablierte Kabuga Verbindungen zu den Mächtigen in und außerhalb Ruandas. Nach dem Ende des Genozids im Juli 1994 floh er zunächst in die Schweiz, für die er bereits ein Visum besaß. Nach seiner Abschiebung dort jagten ihn die Ermittler über 26 Jahre lang, die Spur führte wahlweise nach Kenia, Kamerun, Deutschland und schließlich nach Frankreich.
Am 16. Mai 2020 nehmen die französischen Behörden Kabuga in Asnières-sur-Seine bei Paris fest. Der sichtlich ergraute Mann sitzt mittlerweile im Rollstuhl. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit sei er prozessfähig, urteilte das UN-Gericht im Juni dieses Jahres.
Ein Prozess für die Geschichtsbücher
Politikwissenschaftler Reyntjens schätzt, dass es ein Mammutprozess werden könnte. Allein für die Befragung der Zeuginnen und Zeugen sind 40 Stunden angesetzt, manche davon werden per Video zugeschaltet.
Er glaube, dass der Prozess in Den Haag von vielen in der ruandischen Gesellschaft kaum verfolgt werde. "Natürlich ist der Prozess wichtig für Überlebende und die Familien der Toten. Noch mehr allerdings für das politische Regime in Ruanda", meint er.
Der ehemalige Rebellenführer Paul Kagame regiert das Land seit dem Jahr 2000, zuvor war er bereits Vizepräsident und Verteidigungsminister. Der Versöhnungsprozess selbst läuft bis heute schleppend, die offiziellen Gerichte sind mit der schieren Anzahl der Täter überfordert. Der Prozess vor dem UN-Gericht ließe sich von der ruandischen Führung also politisch nutzen.
Klar ist, dass selbst eine vergleichbar milde Strafe von einigen Jahren Gefängnis einer lebenslangen Haft für den 89-jährigen Félicien Kabuga gleichkommen würde. "Vor allem historisch gesehen ist der Prozess wichtig, weil die Hoffnung besteht, dass wir die Mechanismen eines Genozids dadurch besser verstehen", sagt Reyntjens. Eine Aufarbeitung sei nie zu spät.
Und das habe noch einmal eine ganz neue Bedeutung gewonnen, sagt der Politikwissenschaftler - angesichts der Vorwürfe gegen Russland, in der Ukraine Kriegsverbrechen zu begehen.