Reportage aus Syrien Spielen zwischen Kugelhagel und Trümmern
Ein Trümmerhaufen als Sandkasten, Patronenhülsen als Spielzeug - die Kinder in der syrischen Stadt Aleppo haben offenbar keine Furcht vor Schüssen. Täglich wird auf den Straßen gekämpft, gestorben - und gespielt. Doch manchmal sind die Kinder zur falschen Zeit am falschen Ort.
Ein Sandkasten als Trümmerhaufen, leeren Patronenhülsen als Spielzeug, verstecken in Ruinen - die Kinder in der syrischen Stadt Aleppo haben offenbar keine Angst vor den Schüssen. Täglich wird auf den Straßen der Stadt gekämpft gestorben - und gespielt. Manchmal sind die Kinder zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. ARD-Hörfunkreporter Martin Durm war gemeinsam mit seinem Fernsehkollegen Jörg Armbruster in Aleppo unterwegs, wo Armbruster lebensgefährlich verletzt wurde.
Von Martin Durm, SWR
"Fahrt hier nicht weiter", empfehlen die Rebellen in Medina Hannan. "Dort vorne sind gerade zwei Raketen eingeschlagen." Also drehen wir um und fahren ein paar Hundert Meter zurück. Das Stadtviertel Medina Hannan liegt etwas abseits der Front, sieben Kilometer von der umkämpften Altstadt Aleppos entfernt. Wir hatten unterwegs diese lachenden, spielenden Kinder zwischen ausgebombten Häusern gesehen. Die Trümmerhaufen waren ihr Sandkasten, leere Patronenhülsen ihr Spielzeug. Wir dachten, hier ist man sicher.
Man ist nirgendwo sicher in dieser Stadt. Der Beschuss rückt mit einem Mal näher heran, doch die Kinder laufen nicht weg. Sie zucken nicht mal zusammen.
"Das ist doch normal"
"Was machst Du da?", fragen wir einen Jungen. "Ich repariere mein Rad", sagt er. "Der Reifen war kaputt. Aber jetzt ist er wieder geflickt. Macht's gut, ich fahre mal nach Hause." Und wie er fröhlich davon radelt, kommen die anderen Kinder heran. "Habt ihr nicht Angst", fragen wir? "Nein, überhaupt nicht", sagen sie. "Das ist doch normal. Daran haben wir uns gewöhnt. Hier schlägt es immer wieder mal ein. Dort vorne an der Brücke, da wird oft geschossen."
Ein knappes Jahr hat es in Aleppo gedauert, um aus Kindern Kriegskinder zu machen. Als Hunderttausende Syrer im März 2011 noch friedlich und ohne jede Gewalt gegen Präsident Baschar al Assad protestierten, ging in Aleppo kaum jemand gegen das Regime auf die Straße. Als nach sechs Monaten und vielen zusammengeschossenen Demonstranten die Kämpfe in Homs, Hama und Idlib begannen, blieb es in Aleppo immer noch ruhig.
Kein Schulunterricht mehr
Die reiche Stadt mit ihrem alten Bazar und den neuen Industriegebieten hatte zuviel zu verlieren, um den Aufstand zu wagen. Dann, im Juli 2012, kamen die Rebellen vom Land und eroberten den Westteil Aleppos. Seitdem gibt es keinen Schulunterricht mehr in der Stadt. Seitdem wird täglich auf den Straßen gekämpft und gestorben. Und es wird gespielt: Fußball, fangen, Versteck in den Ruinen.
Wenn sie Glück haben, leben sie noch
Manchmal sind ein paar Kinder zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Dann liegen sie auf der Straße, und wenn sie Glück haben, leben sie noch. Sie werden mit einem Auto in ein Notlazarett transportiert und auf einen OP-Tisch gelegt. So wie Hassan, er ist fünf Jahre alt. Granatsplitter haben kleine, centgroße Löcher in seinen Körper gerissen - am Hals, in der Schulter, am Rücken. Dr. Qabdur Muajid steht da, streift sich die blutbefleckten Chirurgenhandschuhe von den Händen, und spricht mit Hassans Vater: "Dein Sohn wurde schwer verletzt, aber wir haben alle Splitter entfernt. Gott sei dank, er wird durchkommen."
Der Vater steht da, aber er scheint nichts mehr zu hören. Er scheint nicht mal mehr im Stande zu sein, das Kind in die Arme zu nehmen. Irgendwann sagt er: "Ich habe zwei Söhne. Der Ältere ist von Geburt an behindert. Jetzt hat es auch noch meinen Jüngsten getroffen."
Verbände und Medikamente sind rar
Ein Mädchen wird gebracht, blutend, in eine Decke gewickelt. Dr. Muajid zieht streift sich neue Chirurgenhandschuhe über. Er muss sparsam sein mit Verbänden und Medikamenten. Kompressen, Schmerzmittel, Antibiotika - alles ist Mangelware. Es gibt in diesem Kriegsgebiet nicht einmal medizinischen Nachschub. Im Fall Syrien nimmt der Westen das Prinzip der Nichteinmischung so genau, dass er den notleidenden Menschen nicht einmal humanitäre Hilfe zukommen lässt.
Das Mädchen zittert vor Schmerz. "Dieses Regime tötet seine Kinder", flucht Dr. Muajid. "So geht das jeden Tag. Das ist unser Leben. Ihr in Europa lebt mit eurer Sicherheit, wir leben mit unserem Krieg. Manchmal gibt es einen Tag ohne Bomben. Dann denken wir: Da stimmt etwas nicht."