Angriff auf Beiruter Vorort Die Detonationen gehen durch Mark und Bein
Israel bombardiert seit Wochen Vororte von Beirut, die Hochburgen der Terrormiliz Hisbollah sind. Beobachtungen bei einem solchen Angriff vor einigen Tagen - und der Folgen für die Zivilbevölkerung.
Eigentlich sollte hier kein Kind rumlaufen an diesem gottverlassenen Ort - und erst recht nicht um diese Uhrzeit. Es ist 22.00 Uhr, eine israelische Beobachtungsdrohne dreht ihr Runden, und es wird nicht mehr lange dauern, bis da unten - etwa tausend Meter entfernt - schwere Bomben und Raketen einschlagen werden.
Unten in der Dunkelheit liegen die südlichen Vororte Beiruts, der schiitisch geprägte Stadtbezirk Dahija, der in den Nachrichten immer "Hisbollah-Hochburg" genannt wird. Das ist er auch, aber nicht nur: Dahija war bis vor ein paar Wochen ein dicht besiedeltes Viertel, voller Läden und Märkte und Leben.
Seit dem 23. September wird das Stadtgebiet fast jede Nacht von israelischen Kampfjets angegriffen: Auch in dieser Nacht wird das geschehen. Das Mädchen, drei, vielleicht vier Jahre alt, nimmt seinen Lutscher aus dem Mund. "Papa, ist das da Dahija?", fragt sie.
Angriff mit Ansage
Wir befinden uns auf einer Art Aussichtsterrasse in Babdaa, einem christlichen Wohnbezirk, der direkt an die schiitischen Vororte grenzt. Beirut zerfällt in diesen Kriegstagen in seine Bestandteile: einerseits christliche, sunnitische, drusische Viertel, die vergleichsweise sicher sind - andererseits die schiitischen Todeszonen. Oft liegt das eine sehr nah beim anderen.
Kurz vor 22.00 Uhr hat die israelische Armee die übliche Vorwarnung in die libanesischen Mobilfunknetze versendet. Wortlaut: "Dringend, an alle Einwohner Dahijas. Sie befinden sich in der Nähe von Hisbollah-Stützpunkten, die die israelischen Streitkräfte gleich angreifen werden. Verlassen Sie die gekennzeichneten Gebäude sofort, entfernen Sie sich."
Kriegsberichterstattung im Schichtbetrieb
Die Drohne kreist jetzt sehr tief. Gleich nebenan haben ein halbes Dutzend arabische, türkische, iranische Fernsehteams ihre Kameras aufgebaut. Im Acht-Stunden-Takt warten die Medienleute darauf, dass es einschlägt. Kriegsberichterstattung im Schichtbetrieb. Manchmal kommen auch Familien aus Babdaa vorbei, um zu sehen, was los ist. Es wird Schischa geraucht, es gibt Nescafé mit Kartoffelchips.
Üblicherweise beträgt die Vorwarnzeit 20 bis 30 Minuten. Drei Warnungen wurden diesmal gesendet. Innerhalb eines Monats hat die israelische Luftwaffe Dahija in weiten Teilen entvölkert. Der Stadtbezirk liegt vor uns wie ein riesiger dunkler Krater und wir stehen an seinem Rand. Es ist 22.30 Uhr.
"Drei Angriffe haben sie angekündigt, aber man weiß ja nie"
Mit einem Mal sind die Drohnen verschwunden, alles ist still. Die Explosion kommt aus der Nähe des internationalen Flughafens Beirut. Ein schwerer Schlag mit bedrohlichem Nachhall, gefolgt von aufgeschrecktem Hundegebell. Wie auf Kommando werfen sich jetzt die Korrespondenten ihre Splitterschutzwesten über, ziehen Helme auf, legen los. Was sie jetzt sagen und zeigen, wird live in jeden Winkel der arabisch-islamischen Welt übertragen.
Angriff zwei und drei kommen kurz hintereinander. Weiter hinten, zwischen den Wohnblocks, leuchtet es kurz auf wie bei einem monströsen Blitzlichtgewitter. Dunkler Rauch steigt in den Nachthimmel. "Siehst Du die Brände?" sagt der Kollege einer arabischen Nachrichtenagentur. "Drei Angriffe haben sie angekündigt", sage ich. "Ja", sagt er. "Aber man weiß ja nie."
Eine Rückkehr zur "Dahija-Doktrin"?
2006, im letzten Libanon-Krieg, entwarf der damalige israelische General Gadi Eisenkot die sogenannte "Dahija-Doktrin". Durch die Anwendung von "disproportionaler Gewalt" an von Zivilisten bewohnten Gebieten sollte die Bevölkerung dazu gebracht werden, sich gegen die Hisbollah zu stellen. In dieser Nacht sieht es fast danach aus, als sei die "Dahija-Doktrin" wieder brandaktuell.
Mit einem Mal ist wieder eine israelische Drohne im Anflug. Und am Nachthimmel bahnt sich noch etwas anderes an, etwas Gewaltiges, das plötzlich und ohne Vorwarnung über Dahija hereinbricht. Ein Kampfjet, fauchend, unsichtbar. Zwei Raketen feuert er auf den Süden Beiruts und dreht ab. Die Detonationen gehen durch Mark und Bein.
Das Leid der Vertriebenen
Am Tag danach an der Küstenstraße im Westen Beiruts. Dort hausen die Vertriebenen, die gemäß der "Dahija-Doktrin" dazu bestimmt wären, gegen die schwerbewaffnete Hisbollah-Miliz zu rebellieren. Eine endlose Reihe von windschiefen Unterständen, Zeltplanen, Stoffbündeln. Alles ist schmutzig, weil das Leben auf der Straße keine Hygiene zulässt.
Und die Leute sitzen in ihren Zelten, mit ihren Kindern, ihren Eltern, die leer vor sich hin blicken - weil sie nicht fassen können, dass sie der Krieg auf ihre alten Tage noch einmal einholt. Eine Frau winkt uns zu, bittet in ihren Verschlag. "Schau' Dich nur um", sagt sie. "Die Decken hier haben wir auf einer Müllhalde geholt." Sie sagt, sie heiße Ahlam - übersetzt bedeutet das "Traum".
Hilfsgüter von der Hisbollah
Die Kissen und Matratzen sind zerrissen und fleckig, hinter ihrem Rücken verstecken sich ihre zwei Kinder. Vor drei Wochen sei sie aus Dahija geflohen, als eine Bombe einen benachbarten Wohnblock zerstörte und mit ihm auch das Haus, in dem sie lebten. Ihr Mann liege tot unter den Trümmern, sagt Ahlam, sie und die Kinder kamen mit dem Leben davon.
Und nun sitzen sie hier auf der Straße, fünf Kilometer von Dahija entfernt. "Jede Nacht hören wir die Einschläge, die Kinder können kaum schlafen." Manchmal kämen ein paar junge Männer vorbei, sagt sie, Mitglieder der Hisbollah. "Sie geben uns ein bisschen Käse, Milch, Brot ... Aber das verdirbt gleich in der Hitze."