Rede zur Lage der Nation Fünf Erkenntnisse aus Bidens Auftritt
Es könnte die wichtigste Rede seiner Amtszeit gewesen sein: In seiner Rede zur Lage der Nation musste US-Präsident Biden vor allem zeigen, dass er fit genug für weitere vier Jahre ist. Wie hat er sich präsentiert?
1. Jeder Satz ein Ausruf
Von der ersten Minute an machte Biden Druck. Jeder Satz endete mit einem Ausrufezeichen. Wie ein eiliger Auktionator hämmerte er sich durch seine Themen - fest in der Stimme, klar in der Aussage: "Putin, wir gehen nicht weg!", "Man kann sein Land nicht nur lieben, wenn man gewinnt!", "Das Recht auf künstliche Befruchtung muss erhalten bleiben!", "Kein Kind darf hungern!" oder "Bücher verbieten ist falsch!"
Ja, er nuschelte mitunter und musste oft husten. Seine ganze Motorik, Gesicht mit eingeschlossen, wirkte steif und angestrengt. Aber er hielt das hohe Tempo und die Dynamik seiner Rede von Anfang bis Ende durch. Und dass der Präsident weiß, wovon er spricht und dafür brennt, was er tut - daran gab es nichts zu zweifeln.
Die Zwischenrufe der Republikaner parierte er nahezu fehlerfrei. Allerdings ließ er sich dazu hinreißen, einen mutmaßlichen Mörder als "Illegalen" zu bezeichnen. Das war bisher nicht sein Stil. Und das werden ihm seine Parteifreunde noch lange vorhalten.
2. Biden bringt seine Demokraten zum Ausrasten
Wüsste man es nicht besser, hätte man glauben können, Senatoren und Abgeordnete der Demokraten seien nicht bei einer Biden-Rede, sondern beim Taylor-Swift-Konzert. Sie applaudierten, brüllten, jubelten und kreischten, als würden gerade alle ihre Lieblingssongs gespielt.
Das war auch so, denn Biden lieferte viele sichere Vorlagen: Ukraine unterstützen, Abtreibung schützen, neue Steuern für Milliardäre. Vor allem aber wollten sie der Welt zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, wegen dieses unbeliebten Präsidenten aus dem Häuschen zu geraten. Es wirkte aber mitunter ein bisschen aufgesetzt.
Die Demokraten - wie hier Senatorin Elizabeth Warren - feierten Biden wie einen Popstar.
3. Mehr als Augenrollen war bei den Republikanern nicht
Mike Johnson, der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, hat die Republikaner angeblich aufgefordert, sich angemessen zu benehmen - nachdem sie im vergangenen Jahr Bidens Rede durch grobe Zwischenrufe gestört hatten. Unvergessen bleibt Marjorie Taylor Greene, gut sichtbar in ihrem leuchtend weißen Mantel mit Pelzkragen, wie sie lauthals und sichtlich zufrieden mit sich selbst den Präsidenten als "Lügner" anschrie. Auch diesmal war die Abgeordnete nicht zu übersehen - dank einer roten "Make America Great Again"-Kappe. Andere trugen T-Shirts mit Trumps Polizeifoto.
Nicht zu übersehen war Marjorie Taylor Greene mit ihrer "Make America Great Again"-Kappe.
Akustisch kamen die Republikaner zwar nicht gegen die aufgepeitschten Demokraten an, schafften es aber immer wieder, Biden in kleine Scharmützel zu verwickeln, um dann festzustellen, dass er die Lacher auf seiner Seite hatte.
Unbezahlbar das Minenspiel von Johnson selbst, der hinter Biden ständig im Bild war und ein gelangweiltes Augenrollen der Marke "Echt jetzt?" kultivierte, manchmal aber auch unwillkürlich nickte, zum Beispiel beim Thema Schulbildung. Das könnte sich als schlecht für seine Karriere bei den Republikanern erweisen.
Auch der Republikaner Troy Nehls zog im T-Shirt mit Trump-Konterfei Aufmerksamkeit auf sich.
4. Biden gibt sich als Kümmerer
Wie erwartet präsentierte Biden sich als Kümmerer für Familien und die arbeitende Bevölkerung, während er Trump als Beschützer der Reichen und Feind der Demokratie darstellte. Den Namen erwähnte er aber nicht, sondern sprach nur von "meinem Vorgänger".
Deutlicher als sonst forderte Biden die israelische Regierung auf, Hilfsgüter für den Gazastreifen nicht als Druckmittel zu benutzen. Seine Ankündigung, einen provisorischen Hafen vor der Küste zu bauen, war eine der wichtigsten Aussagen der Rede und klar ein Versuch, junge und progressive Wähler zu erreichen.
Klimaschutz wurde eher kurz gestreift, der Schutz von künstlicher Befruchtung und Abtreibung scheinen wichtige Wahlkampfthemen zu werden, so ausführlich wie Biden darauf einging.
5. Trump nennt Biden "wütend und verrückt"
Und wie reagierte Donald Trump auf die Rede? Der Ex-Präsident hat Angst vor Bazillen (er bezeichnet sich selbst als "germaphobe") und kann Biden nicht leiden. Während Bidens "State of the Union" kam offenbar beides zusammen, als er nach der Rede postete: "Schüttelt ihm nicht die Hand, er hat die ganze Nacht da hineingehustet!" Trump hat den Abend vorm Fernseher verbracht und sich offenbar ziemlich aufgeregt.
Der versprochene Live-Faktencheck auf seiner Plattform "Truth Social" bestand aus Äußerungen wie "Er will allen die Waffen wegnehmen". Oder: "Die Republikaner haben keinen Plan zur Kürzung der Sozialversicherung, eine erfundene Geschichte von Betrüger Joe!"
Dazu ließ er ein Feuerwerk Trump-typischer Kommentare ab, wie etwa "Er ist so wütend und verrückt" oder "Das Husten, das Husten, immer das Husten!".
Fazit: Schwung, aber keine Wende
Biden hat gezeigt, dass er kämpfen kann und will. Ob das reicht, um die Skeptiker zu überzeugen? Ronald Reagan hat im Wahlkampf 1980 eine Frage gestellt, die zur Zeit immer wieder zitiert wird: "Sind Sie heute besser dran als vor vier Jahren?" Viele Amerikanerinnen und Amerikaner sagen spontan "nein". Wenn Biden gewinnen will, muss er das ändern.
Und übrigens: Ja, es gibt tatsächlich einen "designated survivor", einen Minister oder seltener eine Ministerin, die nicht dabei ist - für den Fall, dass es einen Anschlag gibt. Dieses Mal war es Bildungsminister Miguel Cardona. Er hat Bidens Auftritt aus der Ferne an einem geheimen Ort verfolgt. Hätte es also während der Rede zur Lage der Nation einen tödlichen Anschlag auf das Kapitol gegeben, wäre er als einziges überlebende Regierungsmitglied Präsident geworden.