Neue Verfassung für Chile abgelehnt "Die Hälfte des Landes wurde ignoriert"
Der Entwurf für eine neue Verfassung in Chile ist in einem Referendum mit großer Mehrheit abgewiesen worden. Das Votum ist zugleich eine Niederlage für Präsident Boric. Dieser versucht, einen neuen Verfassungsprozess anzustoßen.
Auf dem Platz der Würde im Zentrum von Santiago herrscht Fassungslosigkeit. Mit so einem klaren Triumph des Rechazo - der Ablehnung des neuen Verfassungsentwurfes - hätte hier niemand gerechnet. Hier, wo 2019 die soziale Revolte Chiles begann, der Reformprozess angestoßen wurde, der an diesem Abend zu einer neuen Verfassung führen sollte. Doch nun fließen Tränen, während die ersten Hupkonzerte derjenigen beginnen, die mit Nein gestimmt haben.
Chile würde nun im immergleichen Sumpf stecken, stellt Paulina Soto fest, die eine neue Verfassung unterstützt hatte: "Wir akzeptieren weiter all die Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit unserer Gesellschaft und das nach all diesen drei Jahren, in denen wir so viel gekämpft haben. Für was, frage ich mich? Die Angst vor der Veränderung war stärker."
Trauer, Wut und Fassungslosigkeit seien nun das, was sich unter vielen Befürworterinnen und Befürwortern des Verfassungsentwurfes breit mache, ergänzt Claudia Salas. "Es gab so viele Fake-News und Hetzkampagnen von Rechts über die Verfassung. Dieses Land hat einfach kein Gedächtnis, es hat Angst vor Veränderung. Wir hatten die Chance, das Erbe der Diktatur endgültig abzuschütteln, und dann kneifen wir. Das alles bedeutet nichts Gutes."
Neue Verfassung sollte Chile umbauen
Die neue Verfassung sollte Chile von Grund auf umbauen, zu einem Sozialstaat, der Frauenrechte und Umweltschutz stärkt, die indigenen Völker anerkennt und sich aktiv um das Wohlergehen der Menschen kümmert, statt das privaten Unternehmen zu überlassen, wie es die aktuelle Verfassung, die noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur stammt, vorsieht. Noch vor zwei Jahren hatten 80 Prozent der Wähler für eine neue Verfassung gestimmt - und jetzt das?
In der Zentrale des Rechazo wird die Nationalhymne angestimmt, Feierstimmung, aufatmen. "Wir wollen eine neue Verfassung, aber nicht diese hier", sagt Ximena Rincon, Senatorin der konservativen christlich demokratischen Partei Partido Demócrata Cristiano de Chile: "Dieses Ergebnis sagt ganz klar, dass eine Mehrheit im Land eine neue Chance für eine bessere Verfassung haben möchte, die alle repräsentiert."
"Versagen des Radikalismus und der Überheblichkeit"
Ausgearbeitet wurde der Gesellschaftsvertrag von 155 gewählten Volksvertretern, darunter genauso viele Männer wie Frauen, die - getragen von der damals euphorischen Stimmung - alle mehrheitlich aus dem linken und progressiven Lager kamen. Rechte und konservative Kandidaten errangen nicht einmal eine Sperrminorität.
Damit repräsentierte die verfassungsgebende Versammlung allerdings nicht den Querschnitt der chilenischen Gesellschaft. Kritiker sagen, der Entwurf sei kaum mehr als eine Wunschliste der Linken. Chile könne sich in ein zweites Venezuela verwandeln, warnten andere. Cristian Warnken, Sprecher der eher zentristischen Bewegung "Amarillos por Chile", erklärte: "Das war eine Niederlage der Überheblichkeit und Arroganz, die Hälfte des Landes wurde ignoriert und nicht mit einbezogen. Eine radikale Linke hat mit dem Rücken zum Rest des Landes gearbeitet. Das Ergebnis ist sehr eindeutig. Die Menschen fühlen sich von dieser Verfassung nicht vertreten."
Herbe Niederlage auch für Präsident Boric
Die Frage ist: Was nun? Die Ablehnung der Verfassung, dazu mit einem solch klaren Vorsprung, ist eine herbe Niederlage auch für Chiles Präsidenten Gabriel Boric, bei seiner Wahl als junger, linker Hoffnungsträger gefeiert. Das Ergebnis des Referendums war, auch wenn er sich selbst versuchte zu distanzieren, auch eine Abstimmung über sein erstes Regierungsjahr. Erstmals herrschte bei dieser Abstimmung Wahlpflicht: Mehr als 13 Millionen der rund 15 Millionen Wahlberechtigten in Chile gaben ihre Stimme ab, ein historischer Rekord.
Boric erklärte am Sonntagabend, es sollte nun mit allen Beteiligten ein neuer Anlauf für eine Verfassung gestartet werden: "Auch diejenigen von uns, die diesen historischen Transformationsprozess unterstützt haben, müssen selbstkritisch sein. Chilenische Männer und Frauen haben eine zweite Chance gefordert. Deshalb setze ich mich dafür ein, alles zu tun, um gemeinsam mit dem Kongress und der Zivilgesellschaft einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen, der Lehren aus dem alten Prozess zieht, und dem es gelingt, in einem neuen Text die breite Mehrheit der Bevölkerung zu interpretieren."
Boric lud alle politischen Parteien ein, um bereits am Montag die Weiterführung des verfassungsgebenden Prozesses zu analysieren. Währenddessen heizt sich die Stimmung rund um die Plaza Dignidad im Zentrum Santiagos auf. Autokorsos umkreisen die Plaza, einige Steine flogen. Chiles Gesellschaft ist tief gespalten. Einen neuen Verfassungsprozess anzustoßen wird alles andere als einfach.