Schwangere Russinnen Zur Entbindung nach Buenos Aires
Wer in Argentinien zur Welt kommt, erhält automatisch die Staatsbürgerschaft des Landes. Viele schwangere Russinnen nutzen das, um ihren Kindern eine Zukunft in Frieden zu ermöglichen. Andere machen daraus ein Geschäft.
Kira und Lionel schlafen friedlich in ihrem Kinderwagen auf der Terrasse eines Cafés in Buenos Aires. Sie wurden beide am 19. Dezember in Argentiniens Hauptstadt geboren, am Tag nach dem WM-Sieg des Landes. Daher die Namensgebung, erklärt ihr Vater Ivan: Lionel, wie Messi. Vater Ivan ist ein sportlicher Typ, in Shorts und Surferhemd, 28 Jahre jung. Argentinien soll die neue Heimat seiner Kinder werden, denn in ihre alte Heimat, nach Russland, wollen die Eltern nicht mehr zurück.
"Viele Familien suchen nach einem Ausweg"
Die Eltern Ivan und Polina sind gut ausgebildet, jung, gehören zur urbanen Mittelschicht Russlands. "Du willst nicht in diesem dummen Krieg sterben", sagt Ivan.
"Ich habe keine Wehrpflicht geleistet, weil ich eine leichte Sehbehinderung habe. Aber nach der Mobilmachung im September vergangen Jahres war alles egal, da konnte jeder eingezogen werden." Polina sei damals in der 25. Woche schwanger gewesen. "Wir suchten nach einem Ort, wo wir hin konnten," ergänzt er. Viele Familien suchten nach einem Ausweg.
Allein in den vergangenen drei Monaten verzeichnete die Einwanderungsbehörde 5.800 schwangere Russinnen.
10.000 schwangere Russinnen reisten im letzten Jahr ein
Für Argentinien, anders als für die EU, die ihre Einreisebestimmungen in Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft hat, brauchten Ivan und seine Frau Polina kein Visum. Sie sind zwei von 20.000 russischen Staatsangehörigen, die im vergangenen Jahr nach Argentinien eingereist sind, darunter waren mehr als 10.000 schwangere Frauen.
Allein in den vergangenen drei Monaten wurden 5.800 schwangere Russinnen gemeldet, so die offiziellen Zahlen der Einwanderungsbehörde. Und die ist alarmiert. Chefin Florencia Carigano erklärte vor wenigen Tagen im Radio, dass sich Argentinien zwar traditionell als Einwanderungsland verstehe und jeder willkommen sei, der komme, um auch im Land zu leben. Es könne aber nicht sein, dass kriminelle Mafia-Organisationen daraus ein Geschäft machten, "indem sie unseren Pass anbieten und den Menschen dafür horrende Summen abnehmen".
Geburt entscheidet über Staatsbürgerschaft
In Argentinien erhalten Neugeborene automatisch die Staatsbürgerschaft und damit einen Pass, der zudem die visafreie Einreise in 160 Länder ermöglicht. Auch die Eltern erhalten das Aufenthaltsrecht und können später die Staatsbürgerschaft beantragen - wenn sie den dauerhaften Aufenthalt nachweisen können. Daraus sei ein nun ein Geburtstourismus entstanden, mit dem ein großes Geschäft gemacht würde, so Carigano.
Spezielle Agenturen böten dabei das "Komplett-Paket" für 5.000 US-Dollar aufwärts an, sagt auch Christian Rubilar, der als Anwalt russische Frauen vertritt, die von den Behörden zunächst an der Einreise gehindert wurden.
Kriminelle internationale Netzwerke involviert
Die Frauen seien Opfer, nicht Täter, sagt der Anwalt. "Da gibt es sehr ausgeklügelte, internationale Netzwerke, die falsche Papiere besorgen, die ihre Kunden am Flughafen empfangen, sie in Wohnungen bringen und dann, nach der Geburt, versprechen, die Papiere mithilfe einer Vollmacht auch in Abwesenheit der Frauen zu beantragen", so Rubilar. "Aber das ist eine Lüge, denn das ist unmöglich." Wer Frauen mit falschen Versprechen in der 32. Schwangerschaftswoche nach Argentinien locke, bringe sie zudem in große Gefahr.
Die ARD fragte Kirill Makoveev, Chef der Agentur RuArgentina, für ein Interview an. Aktuell wolle er sich aufgrund der Ermittlungen nicht äußern, erklärte Makoveev per Whatsapp, die Berichte über RuArgentina allerdings seien voller falscher Behauptungen.
Argentiniens Behörden haben derweil damit begonnen, russischen Staatsbürgern die Aufenthaltsgenehmigungen zu entziehen, wenn sie sich nicht physisch im Land aufhalten. "Wenn wir nicht kontrollieren, wem wir die Staatsbürgerschaft geben, sinkt das Ansehen und das Vertrauen in den argentinischen Pass", so die Chefin der Einwanderungsbehörde Carignano.
Zuletzt waren in Slowenien Medienberichte zufolge zwei mutmaßliche russische Spione mit argentinischen Pässen festgenommen worden.
Zukunft in Argentinien
Die Eltern Polina und Ivan, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen wollen, kennen zwar Landsleute, die für ihre Übersiedlung 5000 US-Dollar bezahlt haben. Wer es sich leisten kann, vermeide so einiges an Stress, so sehen die beiden das.
Sie selbst hätten aber alles selbst organisiert, die Kinder seien im öffentlichen Krankenhaus geboren und die Familie wolle auch erstmal in Argentinien bleiben, das betonen sie mit Nachdruck. Derzeit warten sie noch auf ihre Aufenthaltsgenehmigung, es gäbe aktuell lange Wartezeiten.
Den russischen Pass für ihre Kinder hat das junge Paar gar nicht beantragt. "Wir sehen keinerlei Zukunft unter Putins Regime. Wir sind jetzt Eltern, wir wollen, dass unsere Kinder glücklich aufwachsen, eine gute Ausbildung bekommen", erklärt Ivan.
Dass in Argentinien eine schwere Wirtschaftskrise herrscht, die dortige Inflation bei fast 100 Prozent liegt, scheint für das junge Elternpaar derzeit kein Hindernis. Ivan arbeitet remote, als Programmierer, verdient sein Geld im Kryptogeschäft im Ausland. Positiv überrascht habe ihn vielmehr, dass Bitcoin und andere Kryptowährungen in Argentinien mittlerweile vielerorts als Zahlungsmittel akzeptiert würden.