Taliban-Sicherheitspersonal steht Wache.
interview

Afghanistan-Experte zu Abschiebungen "Taliban würden das propagandistisch ausschlachten"

Stand: 05.06.2024 20:30 Uhr

Seit dem Messerangriff von Mannheim mehren sich Forderungen, Abschiebungen nach Afghanistan zu erleichtern. Laut Experte Ruttig könnten sich die Taliban darauf einlassen - im Gegenzug für internationale Anerkennung.

tagesschau.de: Nach dem tödlichen Angriff auf einen Polizisten in Mannheim debattiert die deutsche Politik wieder über Möglichkeiten, Straftäter nach Afghanistan abzuschieben. Keine neue Idee, sondern eine, die vor allem als populistische Forderung immer wieder aufkommt, oder?

Thomas Ruttig: Im Zusammenhang mit dem jetzigen Fall des Messerangriffs, bei dem tragischerweise der Polizist umgekommen ist, kommt diese Debatte wieder auf. Mit den Taliban an der Macht gibt es in Afghanistan natürlich einen neuen politischen Kontext. Es gibt praktische Hindernisse für solch eine Abschiebung, aber auch neue Fragezeichen, die man klären sollte, bevor man solche Vorschläge verbreitet.

Thomas Ruttig
Zur Person
Thomas Ruttig ist Mitbegründer des "Afghanistan Analysts Network" (AAN). Nach dem Studium in Berlin und Kabul arbeitete er zunächst im diplomatischen Dienst der DDR in Kabul und später als Journalist mit Schwerpunkt Afghanistan und Zentralasien. Zudem war er jahrelang als Mitarbeiter an UN-Missionen in Afghanistan beteiligt. Er spricht Paschtu und Dari.

tagesschau.de: Ist es denn überhaupt realistisch anzunehmen, Afghanistan würde unter der Taliban-Regierung aus Deutschland abgeschobene Straftäter zurücknehmen?

Ruttig: Die Taliban können sicher keine Straftäter gebrauchen - aber woran sie interessiert sind, ist eine diplomatische Anerkennung. Bis jetzt hat sie kein einziges Land als Regierung vollständig diplomatisch anerkannt - daran, dass sich das ändert, arbeiten sie aber, vor allem in der Region. Schritte in eine solche Richtung auch bei anderen Ländern würden sie möglicherweise begrüßen, etwa Gespräche mit Vertretern der deutschen Bundesregierung über ein politisches Thema wie eine Anfrage zu Abschiebungen.

"Taliban gehen rabiat gegen IS vor"

tagesschau.de: Ist nicht anzunehmen, dass die Taliban dies als Image-Erfolg ausschlachten würden? Denn nicht nur könnten sie die Aufnahme solcher Gespräche als Teil-Legitimation darstellen, sondern sich auch als konstruktiv präsentieren: Seht her, wir wirken an etwas mit…

Ruttig: Ja, ganz sicher würden die Taliban das propagandistisch ausschlachten. Es ist ja nicht so, dass die Taliban nur destruktiv sind, auch wenn das meist berichtet wird: Es gibt auch eine gewisse Zusammenarbeit mit anderen Staaten, zum Beispiel bei der humanitären Hilfe, die ja unter anderem auch von Deutschland weiter über die UN nach Afghanistan fließt, etwa während der jüngsten Überflutungen. Die Taliban haben auch den Anbau von Schlafmohn weitgehend unterbunden - das war immer eine Forderung der internationalen Gemeinschaft an Afghanistan. Sie versuchen schon, in bestimmten Bereichen auf das Ausland zuzugehen.

tagesschau.de: Nun ist der politische Wunsch nicht das Gleiche wie die rechtlichen Möglichkeiten. Bundesinnenministerin Faeser lässt die Möglichkeiten von Straftäter-Abschiebungen nach Afghanistan nach eigener Angabe prüfen. Das deutsche Recht sieht ein Abschiebungsverbot vor, wenn den Menschen vor Ort Gefahr für Leib und Leben oder ihre Freiheit droht. Wie ist diesbezüglich die Lage in Afghanistan?

Ruttig: Die Tat des Angreifers von Mannheim ist zwar von Taliban-Befürwortern begrüßt worden, sowohl hierzulande als auch in Afghanistan selbst. Aber, darauf hat der Journalist Emran Feroz hingewiesen: Die Videos, die der Täter nach einigen Medienberichten hochgeladen haben soll und die ihn möglicherweise beeinflusst und radikalisiert haben könnten, stammen von einem Prediger, der der Miliz "Islamischer Staat" nahestand - also dem Todfeind der Taliban.

Wenn man den Mann nach Afghanistan ausliefert und den Taliban dieser Kontext bekannt ist - und davon darf man ausgehen -, dann droht diesem Mann tatsächlich Böses. Die Taliban gehen sehr rabiat und relativ systematisch gegen den IS in Afghanistan vor, haben zum Beispiel direkt nach ihrer Machtübernahme IS-Mitglieder aus Gefängnissen geholt und außergerichtlich hingerichtet. Etwas Ähnliches könnte dem Täter von Mannheim auch drohen. Es ist ja bekannt, dass die Taliban keineswegs rechtsstaatliche Prinzipien gegen Leute anwenden, die sie als ihre Feinde ansehen. Das ist ein Punkt, der, glaube ich, in diesem konkreten Fall sehr wichtig ist.

"Handeln nach eigenen Interessen"

tagesschau.de: Was denken Sie vor diesem Hintergrund über die Einlassung von der Grünen-Politikerin Lamya Kaddor, dass man womöglich dort einen abgeschobenen Straftäter noch belohnen würde?

Ruttig: Das halte ich für zu allgemein. Diese Aussage übersieht den Unterschied zwischen Taliban und IS. Die Stimmen in sozialen Netzwerken, die ich erwähnt habe, sind keine offiziellen Vertreter des Talibanregimes. Ich glaube nicht, dass die Taliban so weit gehen würden, den Täter zu belohnen. Sie sind mehr an Ansätzen interessiert, die zu aus ihrer Sicht positiven Beziehungen zum Ausland führen können und werden da wohl keine höhnisch wirkenden Signale senden wollen.

tagesschau.de: Was ist denn bekannt darüber, wie die Taliban mit aus deutscher Sicht unbescholtenen Rückkehrern nach Afghanistan umgehen - falls man das mit der Abschiebung eines in Deutschland straffällig gewordenen Täters überhaupt vergleichen kann?

Ruttig: Ich denke, das kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Wichtig ist auch festzuhalten, dass den Taliban die deutsche Sicht relativ egal sein dürfte: Sie handeln nach eigenen Interessen. Sie stellen sich in Afghanistan - wie die Vereinten Nationen es nennen - als de facto-Autorität dar und werden sich jemanden, der dorthin abgeschoben werden soll, genau ansehen und dann entscheiden, wie man mit ihm umgeht.

Es gibt immer noch sehr viele Abschiebungen von Flüchtlingen aus der Türkei nach Afghanistan. Das sind in der Regel unbescholtene Leute, über deren weiteren Verbleib in Afghanistan man dann nichts mehr erfährt - die Taliban sind in der Lage, dafür zu sorgen, dass darüber keine Informationen nach außen dringen. Es sei denn, man vereinbart das vorher. Aber die Bundesregierung hat schon bei Abgeschobenen vor der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 nicht nachgehakt, was abgeschobenen Afghanen im Land dann widerfahren ist. Das sei Sache der örtlichen Behörden. Das wird man sich im Fall der Taliban nicht so leicht machen können.

tagesschau.de: Was muss man denn annehmen, wie es einem abgeschobenen Straftäter in Afghanistan ergehen könnte?

Ruttig: Das ist sehr schwer zu sagen, weil es solche Fälle zumindest meines Wissens nach bis jetzt nicht gegeben hat. Der mögliche IS-Kontext ist wichtig. Und dann kommt es wie erörtert darauf an, was die Interessen der Taliban in diesem einzelnen Fall sind.

Nachbarländer zur Mitwirkung überreden?

tagesschau.de: Sind die Taliban in ihrer Struktur eine absolute Willkürherrschaft oder wird vor allem auf Ortsebene Willkür ausgeübt? Oder haben sie einfach eine drakonische Rechtsauffassung?

Ruttig: Im Grunde trifft alles zugleich zu: Die Taliban üben die Kontrolle im ganzen Land aus und sind zumindest auf dem Papier zentralistisch. Es gilt ausschließlich Scharia-Recht, und das widerspricht gerade bei der Strafverhängung internationalen Standards. Zudem machen in der Praxis örtliche Taliban-Autoritäten oft, was sie wollen und richten sich nicht nach zentral vorgegebener Politik.

Es gibt dokumentierte Fälle extralegaler Hinrichtungen, von Folter, von Tod in Haftanstalten, die sehr schwer zu untersuchen sind. Das könnte auch das Schicksal von nach Afghanistan Abgeschobenen sein. Die Beobachtungskapazitäten von UN, Amnesty International und ähnlichen Organisationen im Land sind sehr begrenzt, vieles wird da unter dem Radar bleiben. Sie sammeln zwar Informationen über Fälle, aber es ist überhaupt nicht klar, ob das nur annähernd die Wirklichkeit widerspiegelt. Es gibt zum Beispiel auch keine Zahlen, wie viele Menschen in Afghanistan unter den Taliban hingerichtet worden sind - nur dass es weiterhin Hinrichtungen gibt.

tagesschau.de: Ist eine Abschiebung vor dem Hintergrund dieser unübersichtlichen Zustände überhaupt umsetzbar oder dürfte die Debatte ohne konkrete Umsetzung bleiben?

Ruttig: In der Tat gibt es gar keine Möglichkeiten, Leute direkt nach Afghanistan abzuschieben. Es sei denn, die Bundesregierung könnte Nachbarländer dazu überreden, daran mitzuwirken. Aber die werden sich das gerade im Fall eines schweren Straftäters auch drei Mal überlegen - und der Preis könnte so hoch sein, dass er vermutlich auch an moralische Grenzen stößt.

Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 07. Juni 2024 um 20:00 Uhr.