Trotz Erdbebens Wieder Gefechte im Nordwesten Syriens
Im Nordwesten Syriens geht der Bürgerkrieg offenbar weiter - trotz der katastrophalen Lage in der Erdbebenregion. Zudem werden schwere Nachbeben erwartet. Bislang liegt die Opferzahl in der Türkei und Syrien bei mehr als 44.000.
Der Bürgerkrieg in Syrien geht trotz des verheerenden Erdbebens in der Region weiter. Elf Tagen nach der Katastrophe lieferten sich syrische Regierungstruppen und Rebellen im Nordwesten des Landes wieder Gefechte: Truppen von Präsident Baschar al-Assad nahmen Vororte der Stadt Atareb unter Beschuss, die von den Rebellen gehalten wird, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete. Demnach gab es auch Zusammenstöße in Saraqeb und in der Provinz Hama. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
Die Region gehört zu denen am schwersten von dem Beben betroffen Gegenden. Mehr als 4400 Menschen starben laut den Vereinten Nationen dort. In den von der Assad-Regierung kontrollierten Gebieten lag die Opferzahl nach Regierungsangaben bei 1414.
Assad: Krieg habe die Menschen auf die Erdbeben vorbereitet
Die Bewältigung der Folgen übersteigt laut Präsident Assad die Möglichkeiten der Regierung. "Das Ausmaß der Katastrophe und die Aufgaben, die wir übernehmen müssen, sind viel größer als die verfügbaren Ressourcen", sagte er in seiner ersten Fernsehansprache seit dem Erdbeben. Der international weitgehend isolierte Präsident dankte für Hilfen "arabischer Brüder und anderer Freunde".
Gleichzeitig ließ der Präsident dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, verlauten, die Folgen des Krieges im Land hätten die Bevölkerung auf die Erdbeben vorbereitet. "Der Krieg, der Ressourcen erschöpfte und Fähigkeiten schwächte, hat der syrischen Gesellschaft die Erfahrung gegeben, um mit dem Erdbeben umzugehen", sagte er in der Ansprache.
Gefahr weiterer starker Nachbeben
Hilfsorganisationen beklagen, dass trotz der beiden zusätzlich geöffneten Grenzübergänge an der türkisch-syrischen Grenze im Nordwesten Syriens kaum Hilfen ankommen. In der Region waren bereits vor dem Beben mehr als vier Millionen Menschen von Hilfslieferungen abhängig. Die Vereinten Nationen starteten bereits am Dienstag eine Sammlung von 400 Millionen Dollar, mit denen den Menschen in Syrien geholfen werden soll.
Verschärft wird die Lage durch die andauernde Gefahr von weiteren Beben in der Grenzregion. Man erwarte Nachbeben mit einer Stärke von mehr als fünf, sagte der Geschäftsführer für Risikominderung des türkischen Katastrophenschutzes Afad, Orhan Tatar, der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Etwa alle vier Minuten gebe es in der Region ein Nachbeben. Bisher habe es mehr als 4700 Nachbeben gegeben, 40 dieser Beben seien stärker als vier gewesen. "Das ist eine sehr außergewöhnliche Situation", sagte Tatar.
Wie viele Gebäude in Syrien zerstört wurden, ist noch nicht bekannt. Die Vereinten Nationen schätzen, dass etwa 5,3 Millionen Menschen obdachlos geworden sind. In den Erdbebengebieten wird immer noch davor gewarnt, in die Häuser zurückzukehren und darum gebeten, sich von Gebäuden fernzuhalten. Aus Mangel an Alternativen, auf der Suche nach Kleidung oder auch nach persönlichen Gegenständen gehen Menschen jedoch immer noch zurück in ihre Gebäude.
Zugang zu sauberem Trinkwasser schwierig
Auch in der Türkei steigt die Opferzahl weiter. Mehr als 38.000 Tote sind laut den türkischen Katastrophenschutz Afad bislang geborgen worden. Nach ersten Zählungen sind mehr als 84.000 Gebäude eingestürzt oder stark beschädigt, sagte der Minister für Stadtplanung, Murat Kurum. Etwa 20 Millionen Menschen seien von den Auswirkungen des Bebens betroffen.
Mancherorts gibt es wegen der Zerstörung bereits kein Trinkwasser mehr, wie der Chef der Ärztekammer (TTB) im südtürkischen Adana, Selahattin Mentes, sagte. Betroffen sei etwa der Bezirk Nurdag in Gaziantep. Anderswo könne das Leitungswasser womöglich durch Vermischung mit der Kanalisation verseucht sein. "Wir brauchen dringend Zugang zu sauberem Trinkwasser in der Region und müssen Hygiene herstellen. Außerdem muss der Müll entsorgt werden." Andernfalls drohten Infektionskrankheiten wie Cholera.
Nach Angaben der TTB fehlen in der Region Chlortabletten, mobile Toiletten, Reinigungsmittel und Impfungen gegen Tetanus und Diphtherie. Der Bedarf an Lebensmitteln sei dagegen zurzeit gedeckt.
Hoffnung geben Berichte von außergewöhnlichen Rettungen. Elf Tage nach dem Beben hätten Helfer in der türkischen Stadt Antakya zwei Verschüttete nach 261 Stunden aus den Trümmern geholt, berichtete der staatsnahe Sender CNN Türk.
Vereinte Nationen bitten um fast eine Milliarde Euro
Der Bedarf an Hilfe ist groß. Für die Türkei und Syrien bitten die Vereinten Nationen die Mitgliedsstaaten um umgerechnet 940 Millionen Euro. Das Geld soll UN-Generalsekretär Antonio Guterres zufolge 5,2 Millionen Menschen helfen.
Auch aus Deutschland geht die Unterstützung weiter. Trotz eines Ver.di-Warnstreiks startete ein Flieger der Lufthansa mit Hilfsgütern aus Frankfurt Richtung Antalya. Eine weitere Maschine sollte gegen Mittag folgen, teilte die Initiative "Wir helfen gemeinsam" mit. Ver.di hat mit Sondervereinbarungen ermöglicht, dass die Hilfsflüge trotz des Streiks abheben können. Weitere Hilfsflüge der deutsch-türkischen Airline SunExpress sollen nächste Woche folgen.
Anteilnahme weiterhin groß
Menschen in Deutschland, die die Luftbrücke unterstützen wollen, können derweil in den Shops des Paketdienstleisters DPD kostenlos Hilfspakete abgeben. Sie dürfen bis zu 20 Kilogramm wiegen und etwa unbenutzte Winterbekleidung, Schlafsäcke, Decken, Windeln oder trockene Nahrungsmittel enthalten. Die Aktion ist mit dem türkischen Katastrophenschutz Afad abgestimmt.
Die Anteilnahme an der Katastrophe hierzulande ist weiterhin groß. Eine Mehrheit der Deutschen befürwortet einer Umfrage zufolge eine befristete Aufnahme der Betroffenen. Fast sieben von zehn Befragten - 69 Prozent - sprachen sich im aktuellen Deutschlandtrend für das ARD-Morgenmagazin für die erleichterte Visa-Vergabe aus. 23 Prozent sind dagegen, dass die Opfer aus der Türkei zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterkommen können.
Griechenland hilft Türkei nach Erdbeben
Die internationale Erdbebenhilfe kann dabei mitunter auch noch eine weitere positive Folge haben, wie das Beispiel Griechenland zeigt: Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hofft dank der Unterstützung seines Landes für die türkische Erdbebenregion auf Entspannung zwischen den beiden Nachbarländern. Athen und Ankara streiten sich um Hoheitsrechte und Erdgasvorkommen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer. In den vergangenen Monaten hatte die Türkei wiederholt mit einer Invasion auf griechische Inseln gedroht.