Erdbeben in der Türkei Die Verzweifelten von Iskenderun
Die türkische Küstenstadt Iskenderun ist besonders heftig von dem Erdbeben betroffen. In der Bevölkerung wächst die Verzweiflung, aber auch die Wut auf die Regierung.
Iskenderun im Süden der Türkei, in einem Park mitten in der Stadt. Soldaten werfen Decken, Windeln und Kleidung von einem Lastwagen in die Menge. Der Park ist zu einem Lager geworden. Hier leben Menschen, die bei dem schweren Erdbeben ihre Wohnung verloren haben, in Zelten der staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD.
Dabei sei es nicht leicht gewesen, überhaupt ein Zelt zu bekommen, sagt Behice: "Was immer verteilt wird, die Menschen drängen sich zu sehr, als dass man was bekäme." Denn die Hilfsgüter reichen längst nicht für alle, die welche brauchen. Behice und ihre Familie hatten Glück. Um zwei Uhr in der Nacht auf Dienstag haben sie eins bekommen. Bis vier Uhr haben sie es aufgebaut, in strömendem Regen, erzählt sie. Weil sie keine Wahl hatten, haben sie Decken und Kleidung aus ihrer Wohnung geholt - obwohl das Haus jederzeit einstürzen könne.
Freiwillige Helfer verteilen Hilfsgüter in Iskenderun.
Wohnungen dürfen nicht betreten werden
Auch viele Wohnungen, die unversehrt aussehen, dürfen nicht mehr betreten werden. Wegen Hunderter teils starker Nachbeben wollen deren Bewohner das aber sowieso nicht. Die meisten schlafen in ihren Autos. Zelte sind Mangelware, sagt die 15-jährige Selin: "Wir haben kein Zelt, deswegen müssen wir im Auto übernachten. Tagsüber wärmen wir uns in der Sonne auf. AFAD hat Zelte hierher geliefert, aber sie reichen nicht für alle."
Selin steht in der Sonne am Rand des Parks bei ihren Hunden. Sie deckt sie immer wieder zu, weil sie doch frieren, sagt sie. Dabei kommt die empfindliche Kälte erst nachts.
"Momentan sind Zelte gefragt, alle wollen seit drei Tagen nur Zelte", meint ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Roter Halbmond etwas genervt. Dann will er nichts mehr sagen. Für eine Reportage? Ob wir ihn in Teufels Küche bringen wollten? Er hat die Kritik an der staatlichen Hilfsorganisation mitbekommen.
Viele Gebäude in Iskenderun sind zerstört. Auch die noch stehenden Häuser dürfen wegen der Nachbeben und bestehenden Schäden nicht betreten werden.
Unzufriedenheit wächst
Tatsächlich sind etliche Menschen unzufrieden. Özge und Abdullah stehen vor den Trümmern eines Wohnhauses. Sie warten auf Nachrichten über verschüttete Verwandte. "Am ersten Tag wurde hier gar nicht gearbeitet", erzählt Özge. "Im Grunde haben sie erst heute so richtig angefangen. Man hat unsere Hilfe-Bitten nicht gehört. Wir fühlen uns vernachlässigt." Sie blickt auf die Helfer, die Trümmer abtragen. Die meisten sind Soldaten. Ein Kranwagen von einer privaten Firma steht daneben. Özge beklagt sich über schleppende Hilfe. Dabei sind auch Helfer von AFAD dabei, Fachleute.
Das Erdbeben löst in Iskenderun auch Großbrände und Überschwemmungen aus.
Auch, wenn die Regierung anderes behaupte: Es sei zu wenig und zu spät, sagt Özge. Sie will, "dass alle Bedürfnisse befriedigt werden und alle Hilfe geleistet wird und so. Also wir brauchen hier keine Wasserverteiler. Trinkwasser wird sich schon irgendwie finden. Wir brauchen mehr Arbeitsmaschinen und Ausrüstung".
Eine Kritik, die viele teilen. Die Opposition und Experten meinen, die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan habe Warnungen überhört. Die Türkei sei nicht gut genug vorbereitet gewesen - und das sei die Schuld der Regierung. In der Region Kahramanmaras sagt Erdogan dagegen, natürlich habe es Probleme gegeben, aber nun habe die Regierung nach und nach die Lage im Griff. Es dürften jetzt keine Falschmeldungen verbreitet werden.
Hoffnung auf die Wahlen
Kurz darauf ist das Internet im ganzen Land langsam. Dann geht Twitter eine Zeitlang nicht. Das kann ein Zufall sein. Behices Vater glaubt das offenbar nicht. Er sitzt vor dem AFAD-Zelt und ist erzürnt: "Sie rufen den Ausnahmezustand aus und so, aber wirklich auffällige, bemerkenswerte staatliche Hilfe gibt es bisher nicht. Zwei Tage und zwei Nächte sind wir verzweifelt und frierend durch den Regen gelaufen und wussten nicht wohin."
Erdbebenhilfe hin oder her - sie sind sich einig: Es muss sich etwas ändern im Land. Das könnten die Wahlen im Mai bewirken. Doch viele vom Erdbeben Betroffene werden womöglich nicht wählen. Denn dafür müssen sie sich an ihrem Wohnort registrieren. Und den verlassen gerade sehr viele. Auch Behice und ihre Familie wollen weggehen. Wählen werden sie aber trotzdem: "Wo immer wir auch hingehen - wir werden uns für die Wahlen anmelden und unserer Bürgerpflicht nachkommen."