Erdbeben in der Türkei und Syrien Opferzahl steigt auf mehr als 30.000
Fast eine Woche nach den schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei werden nur noch wenige Überlebende gerettet. Die Zahl der Opfer steigt auf mehr als 30.000. In Syrien wächst die Wut über die späte internationale Hilfe.
In der Türkei und Syrien gibt es kaum noch Hoffnung, Überlebende des Erdbebens zu retten. Sechs Tage nach den verheerenden Erdstößen bergen die Einsatzkräfte vor allem Todesopfer. Ihre Zahl ist mittlerweile auf mehr als 30.000 gestiegen.
Alleine in der Türkei liege die Zahl bei 29.605, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf die Katastrophenschutzbehörde Afad. Aus Syrien wurden zuletzt 3575 Tote gemeldet. Da die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen.
Die Vereinten Nationen befürchten, dass die Zahl der Todesopfer auf etwa 50.000 steigen könnte. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News, die Opferzahl könnte sich "verdoppeln oder mehr". Schätzungen seien aber schwierig.
Rettungen nach mehr als 150 Stunden
Geschichten von Rettungen gleichen sechs Tage nach dem Hauptbeben immer mehr einem Wunder. Im türkischen Adiyaman wurden zwei Schwestern gerettet, die 153 Stunden in Kälte und Schutt überlebt hatten, wie der Fernsehsender Habertürk berichtete. Der Sender zeigte zudem, wie in der Stadt ein Sechsjähriger aus den Überresten des Hauses seiner Familie geholt wurde. Umstehende Frauen weinten vor Freude und Erleichterung.
Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca verbreitete ein Video über die Rettung eines kleinen Mädchens. "Gute Nachricht in der 150. Stunde" twitterte er. "Es gibt immer Hoffnung."
Suche nach Überlebenden mit Wärmebildkameras
Die Retter setzen verstärkt Wärmebildkameras ein, um in dem Trümmerchaos Überlebende aufzuspüren. Türkische und italienische Helfer fanden in Antakya einen 35 Jahre alten Mann, wie der Sender NTV berichtete. Der Überlebende sah unversehrt aus und wurde in einen Krankenwagen getragen. In derselben Stadt wurde eine 32-Jährige aus den Trümmern eines achtstöckigen Hauses gerettet. Sie habe erst einmal um einen Tee gebeten, meldete NTV.
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, im Laufe der Nacht sei in Nizip in der Provinz Gaziantep ein Kind lebend gefunden worden. In Kahramanmaras arbeiteten sich laut NTV Retter zu einem Überlebenden vor, den Spürhunde entdeckt hatten.
Bislang kaum Hilfe im Nordwesten Syriens
Noch immer sind viele der betroffenen Gebiete schwer zugänglich. Vor allem die Hilfe für Opfer im Nordwesten Syriens geht nur schleppend voran. Es gibt auch Selbstkritik. "Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen", schrieb der UN-Nothilfekoordinator Griffiths auf Twitter während eines Besuchs in der syrisch-türkischen Grenzregion.
Diese Menschen hätten das Gefühl, man habe sie aufgegeben. "Sie halten Ausschau nach internationaler Hilfe, die nicht eingetroffen ist." Es sei seine Pflicht, diese Fehler so schnell wie möglich korrigieren zu lassen, erklärte Griffiths.
Der Nordwesten Syriens, der von den Erdbeben besonders stark getroffen wurde, wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert. Derzeit gibt es nur einen Grenzübergang, Bab al-Hawa, über den die Vereinten Nationen Hilfe in Gebiete liefern können, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Die syrische Regierung will humanitäre Hilfe komplett durch die von ihr kontrollierten Gebiete fließen lassen.
Die erste Lieferung von UN-Hilfsgütern kam am Donnerstag über Bab al-Hawa - und damit erst drei Tage nach der Erdbebenkatastrophe vom vergangenen Montag. Am Freitag folgte ein weiterer Konvoi mit 14 Lastwagen, die unter anderem Zelte brachten. Am Samstag überquerten dort 22 weitere Lastwagen die türkisch-syrische Grenze mit Gütern unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF.
Wut auf die Vereinten Nationen
In sozialen Medien machten über das Wochenende Fotos von Aktivisten die Runde, die über der stark betroffenen Kleinstadt Dschindiris die blaue Flagge der Vereinten Nationen kopfüber hissten. Familien der Opfer würden die UN damit symbolisch verurteilen, weil diese keine Hilfe für die Verschütteten möglich gemacht hätten, schrieb der bekannte syrische Oppositionelle Usama Abu Said.
Berichte über mutmaßliche Misshandlungen
Auch in der Türkei ist die Wut groß. "Es kursieren viele schockierende Bilder von Polizisten und Zivilisten, die solche Personen verprügeln und brutal behandeln, die nach dem Beben Gebäude geplündert haben sollen", schrieb die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), Emma Sinclair-Webb, auf Twitter. Innen- und Justizministerium hätten die Pflicht, sowohl mutmaßliche Diebe festzunehmen, als auch solche, die Menschen verprügelten.
Die Anwaltskammer von Diyarbakir schrieb auf Twitter, Berichte über solche Misshandlungen nähmen besorgniserregende Ausmaße an. Rechtliche Schritte müssten eingeleitet werden.
Zuvor waren nicht verifizierte Videos in den sozialen Medien aufgetaucht, die zeigen sollen, wie mutmaßliche Plünderer geschlagen werden. Die Zeitung "Birgün" berichtete, zwei Männer aus Hatay hätten angegeben, von Sicherheitskräften geschlagen worden zu sein, nachdem sie fälschlicherweise für Plünderer gehalten wurden. Sie hätten aber lediglich Medikamente für ihre Familien besorgen wollen.
Das Online-Medium "Diken" berichtete, in Adiyaman seien fünf freiwillige Helfer misshandelt worden. Die Berichte konnten nicht unabhängig überprüft werden.