Proteste im Iran "Die Menschen gehen nicht mehr nach Hause"
Im tagesthemen-Interview erklärt die iranische Friedensnobelpreisträgerin Ebadi, was die aktuellen Proteste in ihrem Land von vorherigen Versuchen des Regimesturzes unterscheidet - und welch bedeutende Rolle Frauen dabei spielen.
tagesthemen: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Bilder der vergangenen Wochen - und besonders nochmal gestern - aus ihrer Heimat Iran sehen?
Shirin Ebadi: Einerseits bin ich stolz auf die Jugend im Iran, die trotz der Unterdrückung des Regimes mutig Widerstand leistet, und andererseits bin ich sehr traurig und mache mir Sorgen über die Menschen, die dort zu Tode kommen und festgenommen werden.
Die iranische Menschenrechtsaktivistin erhielt 2003 als erste muslimische Frau den Friedensnobelpreis. Die 1947 geborene Juristin wurde nach ihrem Studium in Teheran als eine der ersten iranischen Frauen zur Richterin berufen. Nach der Islamischen Revolution musste sie ihren Posten aufgeben. Sie arbeitete fortan als Rechtsanwältin und setzte sich besonders für Kinder- und Frauenrechte ein. Seit Ende 2009 lebt Ebadi im Exil in Großbritannien.
tagesthemen: Sie haben Ihren Friedensnobelpreis den muslimischen Frauen gewidmet. Wir sehen gerade Frauen an der Speerspitze der aktuellen Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini mit dem Ruf: "Frauen, Leben, Freiheit!" Warum ist das diesmal so? Woher nehmen die Frauen diesen Mut?
Ebadi: Nach der Revolution im Jahr 1979 sind sehr viele diskriminierende Gesetze gegen die Interessen der Frauen verabschiedet worden, und im Namen des Islam sind den Frauen alle Rechte genommen worden. Seit dem ersten Tag haben die Frauen gegen dieses Regime Widerstand geleistet und gekämpft.
Am Anfang haben die politischen Parteien und die Männer die Kämpfe der iranischen Frauen nicht unterstützt - mit der Begründung, dass wir damit beschäftigt sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu kämpfen. Wenn wir den Imperialismus besiegt haben, dann kommen die Frauenrechte dran. Dann sind über die Jahre viele Männer im Iran unterdrückt, inhaftiert und getötet worden. Und dann haben die Menschen verstanden, dass die Frauenrechte Menschenrechte sind.
Aus diesem Grunde haben die Menschen sich zusammengefunden. Und das Ergebnis ist jetzt diese neue Einheit, diese neue Bewegung. Und da sehen Sie, dass Männer und Frauen zusammen demonstrieren. Die Frauen standen in allen Protesten der letzten 43 Jahre an vorderster Linie des Kampfes.
tagesthemen: Nun gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Demonstrationen und Proteste im Iran - die dann immer brutal niedergeschlagen wurden. Warum sollte es diesmal nicht wieder so verlaufen?
Ebadi: Bei den Protesten früher war es so, dass es jedes Mal andere, besondere Forderungen gab - und deshalb war nur ein Teil der Bevölkerung an den Demonstrationen beteiligt. Aber jetzt ist die Forderung der Menschen eine politische Forderung, sie wollen den Sturz dieses Regimes. Sie sind zusammen und vereint.
Früher war das anders. Sobald das Regime sie eingeschüchtert und unterdrückt hat, sind die Menschen nach Hause gegangen. Aber jetzt sind es über 100 Städte im Iran und seit über 40 Tagen sind die Menschen auf der Straße - und die Unterdrückung nützt dem Regime nichts. Deshalb sind diese Proteste anders. Und ich hoffe, dass sie zu dem Ergebnis führen, das sich die Menschen wünschen.
tagesthemen: Sie haben gesagt, Reformen sind in diesem Regime gar nicht möglich. Dann kann es ja also nur auf einen Umsturz hinauslaufen - gibt es überhaupt eine Chance auf einen friedlichen Machtwechsel?
Ebadi: In den letzten 43 Jahren sind alle Reformwege versucht worden, und keiner hat ein Ergebnis gezeigt. Deshalb muss ein Regimewechsel erfolgen. Ich hoffe, dass das Regime so vernünftig ist, dass es weiß, dass die Menschen nicht mehr nach Hause zurückgehen, und dass das Regime auf die Menschen hören muss und die Waffen niederlegen muss.
tagesthemen: Wir sehen Zigtausende auf den Straßen gegen das Regime, aber es gibt ja auch Befürworter. Wie groß ist denn deren Anteil?
Ebadi: Natürlich hat das Regime auch Befürworter. Das sind diejenigen, die seit Jahren Nutznießer des Regimes sind. In allen Wahlen, die stattgefunden haben, haben die Befürworter allenfalls 15 Prozent der Stimmen geholt.
tagesthemen: Die deutsche Außenministerin hat gestern weitere Sanktionen wie zusätzliche Einreisebeschränkungen gefordert. Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Ebadi: Das ist gut aber reicht nicht aus. Die Menschen im Iran haben die Forderung, dass die Revolutionsgraden auf die Terrorliste gesetzt werden und sanktioniert werden. Die Menschen wollen, dass genauso gehandelt wird wie gegenüber Putin und seinem Umkreis. So wie deren Guthaben eingefroren wurden, so sollte das auch mit den Konten von Khamenei und seinen Getreuen gemacht werden.