Interview zur Israel-Wahl "Wir stehen vor einem langen Hickhack"
Nach der Parlamentswahl stehen Israels Parteien schwierige Gespräche über eine Regierungsbildung bevor. Der Historiker Moshe Zimmermann spricht im Interview über den Drift nach rechts im Land und über die fatalen Folgen einer weiteren Neuwahl.
tagesschau.de: Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt, aber gibt es jetzt schon eine zentrale Botschaft, die sich aus den bisherigen Ergebnissen herauslesen lässt?
Moshe Zimmermann: Es sind zwei Erkenntnisse. Zum einen wird die israelische Rechte immer stärker. Die Zahl der Sitze, die zum rechten Flügel und darüber hinaus zum Mitte-rechts-Flügel gehören, ist gestiegen - die israelische Gesellschaft ist eindeutig rechts orientiert. Das bedeutet zum anderen aber nicht, das Netanyahu, dessen Likud die meisten Stimmen bekommen hat, in der Lage sein wird, eine Regierung zu bilden. Es gibt auch auf dem rechten Flügel Parteien, die nicht mehr mit Netanyahu zusammenkommen wollen. Wir stehen vor einem langen Hick-Hack. Am Freitag werden wir das Endergebnis sehen und die Bildung der nächsten Regierung wird sehr kompliziert werden.
Moshe Zimmermann (* 1943) ist ein israelischer Historiker. Er hatte bis 2012 die Professur für neuere Geschichte und insbesondere deutsche Geschichte an der hebräischen Universität Jerusalem inne. In seiner Laufbahn lehrte er unter anderem als Gastprofessor an den Universitäten von Jena, Halle, Heidelberg, München und Princeton.
tagesschau.de: Der Wahlkampf drehte sich ausschließlich um Netanyahu - ist das Ergebnis ein Erfolg für ihn oder doch eine Enttäuschung?
Zimmermann: Wenn jemand, der so lange regiert, so viele Fehler gemacht hat, der vor Gericht steht, auch für seine Partei etwa ein Viertel der Stimmen und für sein Lager rund die Hälfte der Stimmen im Parlament holt, ist er erfolgreich. Trotzdem ist es möglich, dass er am Ende beim Versuch scheitert, eine Regierung zu bilden.
Netanyahus Charisma zieht
tagesschau.de: Wie kommt es, dass Israels Wähler weiter in so großer Zahl hinter Netanyahu stehen, obwohl er unter dem Vorwurf der Korruption vor Gericht steht?
Zimmermann: Die israelisch-jüdische Gesellschaft ist national orientiert und wählt seit langem mehrheitlich rechts. Die linken Parteien und die linke Mitte waren zwar erfolgreicher als erwartet, kommen aber nicht über ein Viertel der Stimmen hinaus. Netanyahu hat sich als Führer der politischen Szene so gut etabliert, dass er quasi ein Monarch geworden ist. Er hat Charisma - das erklärt sehr viel.
tagesschau.de: Welche Rolle hat im Wahlkampf Corona und die erfolgreiche Impfkampagne gespielt?
Zimmermann: Netanyahu hat seinen Impferfolg in seiner Wahlpropaganda benutzt und es ist anzunehmen, dass das auch einen Teil seines Wahlergebnis erklärt - er hat es geschafft, die Bevölkerung zu impfen, was Israel ja von Europa unterscheidet. Ohne diesen Pluspunkt wäre sein Ergebnis sicher schlechter ausgefallen. Aber für den Schlüssel zu seinem Erfolg beziehungsweise Misserfolg war die Frage: Sind wir für "Bibi" oder sind wir gegen "Bibi"?
Eine Partei, die in die Knesset eingezogen ist, würde nach deutschen Maßstäben rechts von dem AfD-Politiker Björn Höcke und seinem "Flügel" stehen - sie ist rassistisch, rechtsextremistisch. Auf die Partei "Religiöse Zionisten" ist Netanyahu nach jetzigem Stand angewiesen - ohne sie hat er auf dem rechten Flügel keine Mehrheit. Das könnte aber sogar für ihn zu viel sein - nicht weil er etwas gegen Rechtsextremismus hätte, sondern weil er weiß, dass das international heftig kritisiert werden würde.
tagesschau.de: Welche Alternativen gibt es?
Zimmermann: Momentan herrscht ein Chaos. Für eine stabile Regierung gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine lautet: Der Likud trennt sich von Netanyahu und bildet mit den anderen rechten Parteien eine große Koalition. Es ist aber unklar, ob der Likud schon so weit ist. Die andere Möglichkeit ist, dass Netanyahu droht, mit dieser rechtsextremen Partei eine Regierung zu bilden. Damit lockt er andere Parteien aus der Mitte und von der Linken, ihn entgegen ihres Wahlversprechens doch zu unterstützen, um die rechtsextreme Partei zu verhindern. Das auszuloten, dürfte länger dauern – wenn es nicht, als dritte Variante, die fünften Neuwahlen in zwei Jahren geben wird.
tagesschau.de: Sollten die übrigen Parteien genügend Sitze bekommen, um sich unter der Devise "Alles außer Netanyahu" zusammenzuschließen - wie stabil wäre ein solches Bündnis?
Zimmermann: Sollte es im Parlament eine Stimmenmehrheit gegen Netanyahu geben, wäre diese vielleicht in der Lage, ihn zu blockieren, aber nicht, eine Regierung zu bilden. Da gibt es eine, vielleicht sogar zwei arabische Parteien, die für eine Koalition nicht in Frage kommen. Denn unter den Netanyahu-Gegnern gibt es stramm rechts orientierte Politiker und Listen, die einer solchen Koalition niemals zustimmen würden. Dann würde es eher in Richtung Neuwahlen gehen.
tagesschau.de: Was würde es für Israel bedeuten, schon wieder zur Wahl gerufen zu werden?
Zimmermann: Wir beobachten nicht nur Wahl-, sondern auch Demokratiemüdigkeit. Die Leute sehen, dass die Demokratie irgendwie nicht funktioniert Man sieht es auch bei den arabischen Wählern. Ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt rund 22 Prozent. Von ihnen ist nicht einmal die Hälfte zur Wahl gegangen. Die Mehrheit der arabischen Israelis hat die Demokratie aufgegeben - und das ist für diesen Bevölkerungsteil katastrophal. Aber es ist auch ein Signal für die Gesellschaft insgesamt. Die Kombination von Wahlen ohne Entscheidung und der Existenz eines quasi-Monarchen gefährdet die Demokratie.
Und wenn man berücksichtigt, dass Israel weiter Teile der Palästinensischen Gebiete besetzt hält und dort auch keine Demokratie herrscht, dann besteht die Gefahr, dass das überschwappt. Das wird mit jeder neuen Wahl deutlicher.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de