Zehn Jahre Völkermord an Jesiden "Wir fühlen, dass etwas fehlt!"
Mindestens 5.000 Jesidinnen und Jesiden wurden vor zehn Jahren von IS-Terroristen getötet, Tausende Kinder und Frauen verschleppt und versklavt. Viele Überlebende können immer noch kein Leben in Sicherheit führen.
Rosa Amin war gerade mal elf Jahre alt, als die Milizionäre des sogenannten Islamischen Staats (IS) in ihr Dorf im Nordirak einfielen und sie und ihre Familie verschleppten. Die Islamisten trennten Männer und Frauen, Rosa kam mit ihren drei Schwestern nach mehreren Stopps in ein Haus.
Sie war nun eine Gefangene des IS. "Wenn Mädchen hereingekommen sind, haben die Männer sie begutachtet, bevor sie sich ein Mädchen auswählten und sagten: Dreh dich um, beweg deine Haare", berichtet Rosa Amin.
Feindbild Jesiden
Für radikale Islamisten sind die Jesiden ein Feindbild. Jesiden glauben an einen Gott, der sich nach der Schöpfung aus der Welt gezogen hat. Die Anhänger des IS verleumden Jesiden als Teufelsanbeter.
Diese Ansicht habe sich über Jahrhunderte verfestigt, sagt der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger. "Damit konnten sich Jesiden nicht wie Christen oder Juden möglicherweise durch die Zahlung einer Kopfsteuer aus der Affäre ziehen, sondern es waren in den Augen der Anhänger des Islamischen Staats Gegner des Islams, die zu bekämpfen sind."
In den Irak Geflohene sollen zurückkehren
Zwischen 5.000 und 10.000 Jesidinnen und Jesiden wurden von den IS-Terroristen getötet, mehr als 7.000 Kinder und Frauen verschleppt und versklavt.
Etwa 400.000 Jesidinnen und Jesiden konnten fliehen, die meisten sind in Flüchtlingslagern im Nordirak gestrandet. Auch Rosa Amin. Viele von ihnen haben dort die vergangenen zehn Jahre verbracht. Nun lässt die irakische Regierung die Lager auflösen und will, dass die Jesiden in ihre Heimatorte zurückkehren.
Die Wissenschaftlerin Rosa Burç vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung kritisiert, eine Rückkehr sei aufgrund der Sicherheitslage aktuell unmöglich. "Viele Jesidinnen und Jesiden können nicht zurück, weil sie mit dem Risiko leben müssen, zwischen die Fronten zu geraten", sagt Burç.
Denn seit der Vertreibung des IS halten unter anderem die irakische Armee und verschiedene Milizen Stellungen in der Region. Die benachbarte Türkei fliegt immer wieder Luftangriffe, weil sie dort Verbündete der von ihr als Terrororganisation angesehenen PKK vermutet. "Alle Jesidinnen und Jesiden sind der Gefahr ausgesetzt, Opfer von Drohnenangriffen zu werden", erklärt Burç.
Rückkehr in zerstörte Städte und Dörfer
Trotz der unsicheren Lage ist Rasho Al Shawany vor wenigen Wochen mit seiner Familie in die Kleinstadt Tal Banat zurückgekehrt. Seine kleineren Kinder kannten die Heimat ihres Vaters nur aus Erzählungen, von Fotos. Das Camp war fast zehn Jahre lang ihr Zuhause.
Eigentlich wollte Al Shawany schon länger zurück, raus aus dem Camp. Doch Tal Banat glich einer Geisterstadt. Wie sein Haus waren fast alle Gebäude zerstört, bis heute gibt es kein fließendes Wasser, Strom nur für ein paar Stunden am Tag. Inzwischen wohnen ungefähr ein Viertel der ehemaligen Bewohner wieder hier.
In andere Städte und Dörfer weiter nördlich sei schon wieder deutlich mehr Leben zurückgekehrt, sagt Schmidinger, schränkt aber ein: "Wenn drei Familien in ein weitgehend leeres Dorf zurückkehren, wo es keine Infrastruktur gibt, keine Geschäfte und keine Arbeitsplätze, dann werden diese drei Familien sich vorkommen wie in einer Geisterstadt und permanent nur an den Genozid erinnert werden und sich unsicher fühlen."
Misstrauen gegenüber Andersgläubigen
Al Shawany ist froh, dass er zurückgekehrt ist. Im Camp lebten seine Frau, seine fünf Kinder und er in einem Zelt auf nur neun Quadratmetern, erzählt er. Die Hitze im Sommer, die Kälte im Winter und keine Möglichkeit rauszukommen - das sei auf Dauer unerträglich gewesen.
Doch es sei nicht einfach für ihn, in seine alte Heimatstadt zurückzukehren: in eine Gegend, in der Menschen leben, die ihn und andere Jesidinnen und Jesiden einst an den IS verraten haben. "Die meisten haben uns nicht gesagt, dass der IS in der Nähe ist. Und wir waren ihre Freunde, ihre Nachbarn, wir haben einander besucht."
Das Misstrauen der Jesiden gegenüber Andersgläubigen sitzt tief. Al Shawany kann nicht verzeihen, was passiert ist. "Das Schlimmste ist nach wie vor, dass so viele Menschen nicht mehr da sind." Seine Freunde, Cousinen und Cousins sind von den IS-Terroristen getötet worden.
2.600 Jesiden noch immer vermisst
Rosa Amin, die jahrelang als Sklavin missbraucht wurde, ist schwer traumatisiert. Als sie freikommt, sieht sie im Internet Videos von Befreiungen anderer Gefangener. Dort entdeckt sie auch einen Bruder und eine Schwester wieder. Ihre Eltern und fünf weitere Geschwister gelten noch immer als vermisst - wie rund 2.600 andere Jesidinnen und Jesiden. "Gott sei Dank sind wir zusammen", sagt Rosa Amin.
"Wir warten jetzt auf die Befreiung des Rests der Familie. Denn wir fühlen, dass etwas fehlt." Rosa hofft, dass auch ihre Eltern und ihre anderen Schwestern und Brüder den Völkermord überlebt haben. Dass sie nicht tot, sondern noch irgendwo versteckt in Gefangenschaft und am Leben sind.