Nach Protesten in Usbekistan "Ein stolzes Volk ist gekränkt"
Nach Toten bei Protesten in Karakalpakstan sei der Landesteil noch immer abgeschnitten, sagt die usbekische Journalistin Darina Solod. Sie erklärt, was über die Lage bekannt ist - und ob die Bevölkerung dem Einlenken der Regierung Glauben schenkt.
tagesschau.de: Nach der Eskalation von Protesten in der autonomen Region Karakalpakstan ist die Rede von 18 Getöteten, mehr als 240 Verletzten und etwa 500 zeitweise Festgenommenen. Inwieweit ist mit heutigem Stand klar, was dort geschah?
Darina Solod: Die Anzahl der Getöteten und Verletzten - das sind offizielle Zahlen, die die Regierung ausgibt. Allerdings ist die Region jetzt gesperrt - man kann nicht ohne Erlaubnis einreisen, die Leute beklagen, dass sie sie auch nicht ohne Angabe von Gründen verlassen können. Leider können wir dorthin keine Journalisten und Fotografen oder Dokumentarfilmer entsenden, um zu verstehen, wie jetzt die Lage in der Region ist - was in der Hauptstadt Nukus oder in anderen Städten vor sich geht.
Momentan ist die Situation ruhiger als vor zwei Tagen. Aber das Internet funktioniert dort nicht oder nur sehr schwach, was die Arbeit und das Leben der Menschen sehr erschwert: Der einzige Kontaktweg sind Anrufe und SMS. Leider können wir Informationen deshalb nicht immer verifizieren. Es gilt der Ausnahmezustand - das bedeutet, den Bürgern wurde heute empfohlen, nicht ohne Begründung aus dem Haus zu gehen. Soweit ich weiß, haben einige meiner Kollegen versucht, nach Karakalpakstan zu reisen, aber keine Akkreditierung bekommen. Sie wurden auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.
Darina Solod ist Chefredakteurin des usbekischen Nachrichtenportals "Hook" in Taschkent.
tagesschau.de: Die Ursache der Proteste waren Pläne zu einer Verfassungsreform: In der neuen Textversion ist keine Rede mehr vom souveränen Status der Republik Karakalpakstan. Warum ist den Bewohnern von Karakalpakstan diese Souveränität so wichtig, die doch nur theoretisch Bestand hat?
Solod: Dennoch sind Karakalpaken und Usbeken zwei verschiedene Völker. Sie wurden zu Bürgern eines Staates - aber die Karakalpaken haben ihre eigene, reiche Kultur, eine eigene Mentalität und ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein.
Die Karakalpaken sind sehr stolze Menschen: Sie unterscheiden sich von den ethnischen Usbeken in ihrem Wesen - und dieser Stolz ist für sie sehr wichtig. Karakalpaken, die nach Taschkent gezogen sind, sprechen von der Angst, dass von ihrem Volk irgendwann nichts mehr übrig bleibt. Und auch wenn die Souveränität faktisch nicht viel bedeutet, hat man versucht, sie ihnen zu nehmen, ohne überhaupt Rücksprache zu halten. Es gab keine Beratungen, auch kein Referendum. In den Staatsmedien wurde es so dargestellt, als ob einige Abgeordnete des Regionalparlaments selbst die Unabhängigkeit aufgeben wollten, was die Bevölkerung sehr verärgert hat.
Auch wenn Karakalpakstan zum Staatsgebiet Usbekistans gehört, hat die Republik ihre eigenen staatlichen Strukturen, und es wird nicht genug versucht, um das ins Verhältnis zu setzen. Es gab Befürchtungen, dass es diese Souveränität der Republik zwar de jure nichts gibt - aber de facto ist sie eine Rückversicherung, dass es ein eigener Teil des Landes bleibt.
"Mobilfunkanbieter sprechen von Hitzestörungen"
tagesschau.de: Ihr Nachrichtenportal "Hook" spricht sich kategorisch gegen alle Angriffe auf die territoriale Einheit Usbekistans aus. Warum aber, denken Sie, wurde der Internet- und Mobilzugang von der Regierung schon am 27. Juni gekappt - fast eine Woche vor den Protesten?
Solod: Hier bewegen wir uns eher im Bereich von Theorien anstatt überprüfbarer Fakten. Über den 27.6. haben wir keine offiziellen Angaben und erfahren ja auch erst heute, was in den vergangenen Tagen geschehen sein muss. Alles, was wir zuvor hatten, waren Aussagen von Augenzeugen - die Regierungsmitglieder gaben keinerlei Stellungnahmen ab. Wir befanden uns in einem bemerkenswerten Informationsvakuum.
Wie auch in anderen Staaten, in denen während Unruhen der Internetzugang gekappt wird, können wir wohl davon sprechen, dass es Beunruhigung unter den Regierungsmitarbeitern gab, dass sich ihnen missliebige Informationen verbreiten könnten, aber auch das sind Spekulationen. Bis jetzt besteht keine Verbindung, obwohl die Regierung mitteilt, die Lage in der Region sei unter Kontrolle, dort sei jetzt alles gut. Aber die Menschen dort können noch immer nicht normal kommunizieren. Offenbar gab es die Befürchtung, dass sich Falschnachrichten verbreiten könnten - obwohl die sich ohnehin immer verbreiten, ob es die Regierung will oder nicht. Ich kann Ihre Frage also nicht eindeutig beantworten, weil ich als Bürgerin des bevölkerungsreichen Usbekistan die Antwort selbst nicht weiß. Offiziell weist die Regierung eine Blockade des Internets zurück - die Mobilfunkanbieter sprechen von Störungen, weil es momentan so heiß sei. In Taschkent sind es gerade 40 Grad.
tagesschau.de: Usbekistans Präsident teilte inzwischen mit, er unterstütze den Erhalt der Souveränität Karakalpakstans. Was denken Sie - wird die Bevölkerung ihm Glauben schenken?
Solod: Wie in jedem zentralasiatischen Land außer Kirgistan ist das Vertrauen in den Präsidenten sehr hoch - und das nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich. Auch bei uns vertraut das Volk in der Masse seinem Anführer, dem Präsidenten - für viele ist er der einzige, der im Land für Ordnung sorgen kann. Dass er jetzt persönlich nach Karakalpakstan gereist ist und zusicherte, die Souveränität doch nicht aus der Verfassung zu streichen, bedeutet für sehr viele Usbeken wohl, dass es noch einen Grund gibt, den Präsidenten weiterhin zu verehren und zu lieben.
Was die Karakalpaken angeht, bin ich nicht so sicher. Das waren drei schwere Tage. Daher bin ich nicht sicher, dass das Vertrauen in den Präsidenten so hoch ist wie im übrigen Teil Usbekistans. Offiziell werden die Leute das vielleicht nicht öffentlich äußern, weil es in unserem Land eine große Angst gibt, weil die Angst vor einer Bestrafung durch den Sicherheitsapparat sehr groß ist. Aber insgeheim, in den Küchen, von Mensch zu Mensch kann, glaube ich, von großem Vertrauen keine Rede sein. Vielleicht kehrt alles zum Alten zurück, wenn etwas Zeit vergangen ist.
"Grenzen sind geschlossen"
tagesschau.de: In Karakalpakstan wurde für die Dauer eines Monats der Ausnahmezustand verhängt. Was bedeutet das konkret für die Bewohner?
Solod: Er gilt in Karakalpakstan, nicht im ganzen Land. Das bedeutet, dass die Menschen sich nach 21 Uhr nicht draußen aufhalten dürfen. Zwischen sieben und 21 Uhr können sie sich in der Stadt bewegen - auch wenn die Behörden empfehlen, das nicht ohne triftigen Grund zu tun. Das bedeutet, der Verkauf von Waffen ist verboten, in den Apotheken ist der Verkauf bestimmter Arzneimittel eingeschränkt - der Verkauf hochprozentigen Alkohols ist verboten. Die Grenzen zum übrigen Landesteil Usbekistans und nach Kasachstan sind geschlossen. Die Leute können nicht ohne Grund in die Region reisen. Die Polizei hat das Recht, die Menschen auf der Straße festzuhalten, ihre Dokumente zu überprüfen und zur Identitätsfeststellung auf die Wache mitzunehmen.
tagesschau.de: Welche Folgen hat die Eskalation aus Ihrer Sicht in Karakalpakstan? Es scheint, dass die usbekische Regierung nun den Anschein erwecken will, es sei nichts passiert.
Solod: Dieser Eindruck kann bei einigen entstehen. Nicht, dass die Regierung so tut, als sei nichts gewesen, aber sie versucht es herunterzuspielen - als wäre es nicht so ernst, wie es tatsächlich war. Ich denke nicht, dass es eine weitere Eskalation gibt, nun da es hieß: Wir werden die Änderung nicht einführen. Es kann sein, dass zur Durchsetzung der Ausgangssperre zusätzliche Gelder nach Karakalpakstan fließen, um auftretende Probleme zu beseitigen.
Was die Beziehung zwischen Karakalpaken und der Regierung angeht - und auch zu den ethnischen Usbeken: Ich glaube nicht, dass diese Situation ohne Spuren vorüber geht. Es ist schließlich ein ernster, unangenehmer Konflikt, und selbst im täglichen Umgang sind wir mit Anzeichen von Nationalismus konfrontiert, mit Anzeichen von Ablehnung und Unwillen zur Kooperation. Es ist nun mal ein stolzes Volk - und dieses stolze Volk ist momentan gekränkt.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de