Bemühungen um Waffenruhe Verhandlungen ohne Vertrauen
Die Verhandlungen über eine Waffenruhe in Gaza werden durch viele Widersprüche und gegensätzliche Interessen belastet, sagt die Nahost-Expertin Bente Scheller. Es fehle eine langfristige Perspektive - und der Glaube, dass ein Abkommen hält.
tagesschau.de: Seit Wochen laufen jetzt Verhandlungen über eine Waffenruhe im Nahen Osten - bislang ergebnislos. Die USA haben Druck aufgebaut, indem sie zunächst Pläne vorgelegt haben; der UN-Sicherheitsrat hat ihn durch seinen Aufruf zu einer Waffenruhe noch gesteigert. Aber Israel scheint sich nach außen erkennbar noch nicht zu bewegen. Wie weit sind denn Israel und die Hamas in ihren Forderungen nach Voraussetzungen für eine Waffenruhe momentan voneinander entfernt?
Bente Scheller: Das Problem ist, dass wir gar nicht richtig hinter die Kulissen blicken können. Bei beiden Lagern ist klar, dass auch innerhalb der eigenen Reihen jeweils sehr viel zu verhandeln ist, welche Bedingungen man akzeptieren könnte.
Für die Regierung von Benjamin Netanyahu stellt sich die Frage: Wie geht es weiter, wenn eine Waffenruhe da ist und wenn der Krieg zu Ende sein sollte? Weder hat sie Pläne für Gaza vorgelegt, noch ist Netanyahus politische Zukunft garantiert. Ich denke, dass nach einer Waffenruhe die Frage gestellt werden wird, wie es um diese Regierung steht und wie sie weitermachen kann.
Für die Hamas ist gleichermaßen klar: Auch sie muss aushandeln, was die Bedingungen sein können, die sie akzeptieren kann, um halbwegs gesichtswahrend einer Lösung zuzustimmen.
Dr. Bente Scheller ist Referatsleiterin Nahost und Nordafrika bei der Heinrich-Böll-Stiftung.
tagesschau.de: Was wissen wir darüber, was in dem US-Entwurf einer Waffenruhe steht?
Scheller: Wir wissen, dass darin das Wichtigste für Zivilisten steht: eine Waffenruhe. Die wird von ihnen dringend benötigt. Es geht auch um die mehr als 100 Personen, die sich noch in Geiselhaft der Hamas in Gaza befinden. Und die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass durch Verhandlungen viel eher Geiseln befreit worden sind als durch die militärischen Aktionen.
Deswegen üben auch die Angehörigen Druck auf die israelische Regierung aus, damit ein Übereinkommen mit der Hamas gefunden wird. Es steht jedoch nach allem, was wir wissen, nicht in dem Entwurf, wie es langfristig in Gaza weitergehen soll und auf welchem Wege der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gelöst werden soll.
"Netanyahu priorisiert eigenen Machterhalt"
tagesschau.de: Wie sehr ist die israelische Regierung denn an einer Waffenruhe interessiert - jetzt, da Benny Gantz das Kriegskabinett verlassen hat und Netanyahu von rechten Kräften umgeben ist?
Scheller: Gerade die rechten Kräfte haben immer noch viel stärker darauf gedrungen, den Konflikt militärisch zu lösen. Und deswegen denke ich, der Druck auf ihn ist hier gewachsen. Aber hier stehen sich zwei Interessen eigentlich konträr entgegen: das militärische Interesse und das der Geiselangehörigen.
Wir sehen keine riesigen Demonstrationen. Aber angesichts der Präsenz von sehr vielen Menschen auf den israelischen Straßen ist völlig klar: Die Geiselfrage ist wichtig und stellt auch eine Abweichung Netanyahus von der vorherigen Politik der israelischen Regierung dar, sich immer prioritär um entführte Staatsbürger zu kümmern.
Die Regierung von Netanyahu müsste eigentlich versuchen, beiden Interessen gerecht zu werden - Sicherheit zu schaffen und die Geiseln nach Hause zu holen. Das tut sie aber nicht. Augenscheinlich stellt Netanyahu seinen eigenen Machterhalt, der vom Bestehen seiner Koalition abhängt, über das Wohl der Geiseln.
tagesschau.de: Kann er sich mit Blick auf seine eigene Abhängigkeit von rechtsextremen Parteien überhaupt leisten, mit der Hamas einig zu werden oder der Hamas womöglich sogar entgegen zu kommen, ihr etwas anzubieten?
Scheller: Es darf natürlich nicht so aussehen. Denn für die israelische Bevölkerung - und das halte ich auch für absolut nachvollziehbar - ist klar: Es muss um sie gehen. Sie fühlt sich in ihrer Sicherheit bedroht durch das, was am 7. Oktober passiert ist. Die Massaker der Hamas haben ein schweres Trauma hinterlassen und deswegen muss es für die israelische Regierung auch ein Anliegen sein, deutlich zu machen: 'Dieses Abkommen vertritt primär eure Interessen.' Das ist natürlich schwierig umzusetzen. Angesichts der bislang rigorosen Rhetorik sowohl gegen eine Waffenruhe als auch gegen alle anderen Vorschläge, die Situation für Zivilisten besser zu gestalten.
tagesschau.de: Wie müsste ein Abkommen demnach denn aussehen, um es als Erfolg, mithin als diplomatischen Sieg Israels verkaufen zu können?
Scheller: Es müsste auf jeden Fall schnell möglich sein, die Geiseln zurückzubekommen. Hier sieht Bidens Vorschlag einen mehrstufigen Plan vor und es müsste gesichert sein, dass er verlässlich umgesetzt wird. Das steht, denke ich, für Israel im Vordergrund. Natürlich aber auch, dass keine Raketen mehr aus dem Gazastreifen gen Israel abgefeuert werden.
"Belastung für das Verhältnis zu den USA"
tagesschau.de: Blicken wir noch auf die andere Kriegspartei - die Hamas, die durch ihren Überfall auf Israel und durch die große Geiselnahme den Krieg erst ausgelöst hatte. Inwieweit ist sie an einem Andauern dieses Krieges interessiert?
Scheller: Über die Hamas hören wir immer wieder, dass es ihr politisch Zugewinne verschafft hat. Aber das ist nicht mehr viel wert, wenn man nur in den Trümmern lebt und das Elend sieht. Deswegen glaube ich, dass die Hamas auch unter dem Druck steht, die Situation zu erleichtern. Fast alle Menschen, die im Gazastreifen leben, sind durch diesen Krieg vertrieben worden. Sie sind abgeschnitten von humanitärer Versorgung. Es verhungern Menschen, und das sind natürlich Zustände, unter denen niemand leben möchte. Es kann so nicht weitergehen. Sollte es jetzt eine Gelegenheit für eine Übereinkunft geben, lastet auf der Hamas ein bestimmter Druck auf die Hamas, das zu erreichen.
tagesschau.de: Welche Folgen hätte es im Gegenzug, wenn ein Abkommen erneut scheitert - für das Verhältnis zwischen Israel und USA, aber auch für die Glaubwürdigkeit der anderen, also Ägypten und die Golfstaaten?
Scheller: Für die Beziehungen zwischen Israel und den USA ist es belastend. In den vergangenen Wochen konnten wir beobachten, wie sich der Ton verschärft hat. Und das wirkt sich natürlich auch auf die wichtige Rolle aus, die die USA für Israel immer gespielt haben. Auch innenpolitisch ist es in den USA ein sehr großes Thema. Das macht viel aus und erklärt, mit welchem Druck Joe Biden versucht hat, solch einen Deal voranzubringen.
Für die arabischen Staaten ist es in einer anderen Weise schwierig. An ihnen hängen zwar keine so großen Hoffnungen, weil kein vergleichbar etabliertes Verhältnis aufs Spiel gesetzt wird. Aber gleichzeitig steht die Erwartung im Raum Raum, dass Ägypten und Katar alles tun werden - dass sie eben nicht nur Schmalspurverhandlungen für eine Freilassung der Geiseln führen, sondern dabei auch erwirken, dass es eine deutliche Verbesserung der humanitären Situation in Gaza und einen möglichst vollständigen Rückzug des israelischen Militärs gibt.
Was aber auf jeden Fall auf dem Spiel steht, ist das Vertrauen in internationales Recht. Wir haben gesehen, dass der Internationale Gerichtshof sehr klare und auch bindende Forderungen gestellt hat, was sich ändern muss, damit die Art der Kriegsführung im Sinne des Völkerrechts überhaupt akzeptabel ist. Bislang ist eine Umsetzung dessen überhaupt nicht erkennbar. Es ist wichtig, dass hier weiterhin Druck aufrechterhalten wird. Denn internationales Recht dient letztlich dem Schutz aller - und das wäre es vor allem, worauf das internationale Augenmerk derzeit liegen müsste.
"Das Leid ist einfach nicht mehr zu ertragen"
tagesschau.de: Noch sind beide Parteien in einem Patt gefangen, durch Maximalforderungen von einander entfernt. Was müsste sich denn verändern, damit die Karten neu gemischt werden und Aussicht auf eine Annäherung besteht?
Scheller: Was sich auf jeden Fall bräuchte, wäre eine Bereitschaft, zu akzeptieren, welche Verantwortung jeweils dafür besteht, wie dieser Krieg geführt wird und die Zivilisten in den Fokus zu stellen. Dann wäre schon sehr viel gewonnen.
Denn das Leid, das wir sehen, ist einfach nicht mehr zu ertragen. Ich glaube, dass internationale Unterstützung hier wirklich wichtig ist. Das Vertrauen zwischen beiden ist minimal - und da wären externe Mächte als Garanten gefragt.
tagesschau.de: Beide Kriegsparteien spielen auf politischer Ebene auf grausame Weise auch auf Zeit - aber sie stoßen damit zunehmend an Grenzen. Was denken Sie, wann könnte der Kipppunkt erreicht sein, an dem beide Seiten wirklich dafür offen sind, über eine Waffenruhe zu verhandeln?
Scheller: Die Kosten des Konflikts sind sowohl für Israel als auch für die Palästinenser bereits extrem hoch. Deswegen weiß ich gar nicht, ob es so etwas wie einen Kipppunkt überhaupt gibt. Aber es ist schwierig, Verhandlungen zu einem Ende zu führen, wenn nicht klar ist, woraus das Vertrauen entstehen soll, dass die Vereinbarungen eingehalten werden.
Hier spielt eine wichtige Rolle, dass Netanyahu, aber auch Mitglieder seiner Regierung immer wieder bekundet haben: Es reiche nicht, wenn die Geiseln freigelassen werden, der Krieg werde dadurch nicht beendet. Damit liegt es nicht alleine in den Händen der Hamas, den Krieg zu beenden. Selbstverständlich muss sie die Geiseln freilassen, besser früher als später! Aber solange gleichzeitig die Rhetorik so aggressiv ist, bleibt es schwierig.
Auch wäre entscheidend, dass ein Plan für die Zeit nach dem Krieg auf den Tisch käme. Den hat die israelische Regierung bislang nicht vorgelegt. Damit ist auch die Zukunft ungewiss - und schafft ein Gefühl, man wisse eigentlich gar nicht, worauf man sich langfristig einlässt. Kurzfristig ist eine Waffenruhe absolut wichtig für alle, die von diesem Krieg betroffen sind. Aber eine langfristige Perspektive müsste eigentlich damit verknüpft werden - und die fehlt.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de