EU-Geberkonferenz Not in Syrien so groß wie nie
Vor der Syrien-Geberkonferenz schlagen Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen Alarm. Ohne langfristige Hilfen hätten die Menschen - vor allem im Nordwesten des kriegsgeschüttelten Landes - keine Perspektive.
Müll bis zum Horizont: eine Mülldeponie in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Dutzende Menschen, Männer, Frauen und Kinder durchkämmen mit den bloßen Händen den Müllberg, stochern mit Stöcken im Abfall, reißen die Plastiktüten auf, prüfen jedes Müllstück auf Wiederverwertbarkeit.
Familienvater Mohammed klagt: "Wir leiden unter dieser Arbeit, sie ist sehr anstrengend. Aber was soll ich machen? Wir müssen diese harte Arbeit machen, um zu überleben." Die von extremistischen Aufständischen kontrollierte Provinz im Nordwesten gilt als bitterarm, gezeichnet vom Krieg und vom verheerenden Erdbeben im Februar.
Ende der Krise nicht in Sicht
Laut Sherine Ibrahim von der Hilfsorganisation Care leben immer noch etwa fünf Millionen Menschen im Nordwesten unter katastrophalen Umständen. "Manche wurden durch den Krieg bis zu 25 Mal innerhalb Syriens vertrieben, leben in Zeltlagern. 80 Prozent sind Frauen und Kinder. Es gibt keine sichere Nahrung, kein sauberes Wasser, keinen Schutz für Frauen und Mädchen - und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht."
Und auch in den Gebieten, die vom syrischen Diktator Bashar al-Assad kontrolliert werden, ist das Leben alles andere als einfach: Nach mehr als zwölf Kriegsjahren liegt die Wirtschaft in Syrien am Boden. Das Land ist verarmt, 90 Prozent der Menschen in Syrien leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Syrerinnen und Syrer bräuchten die Hilfe der internationalen Gemeinschaft momentan mehr als je zuvor, sagt Ghada Eltahir Mudawi vom UN-Amt für die Koordinierung von humanitärer Hilfe.
Zwölf Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung, wissen nicht, wo sie sicher Nahrung bekommen sollen. Weitere fast drei Millionen müssen möglicherweise hungern. Die Unterernährung ist so hoch wie nie zuvor.
"Das ist ein Schock"
Die Preise für Lebensmittel haben sich in Syrien verdreizehntfacht, sagen Helfer. Und durch die weltweite Inflation sind auch Hilfslieferungen akut bedroht. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnt eindringlich vor einer massiven Kürzung der Hilfe.
Nahost-Regionaldirektorin Corinne Fleischer macht sich Sorgen, denn das WFP kauft viele Nahrungsmittel ein und verschifft sie. "Unsere Preise haben sich in den vergangenen Jahren auch um 40 Prozent erhöht." Bislang unterstützt das Programm in Syrien 5,5 Millionen Menschen.
Im Juli werden wir mehr als zwei Millionen Menschen von unseren Listen streichen müssen. Das ist ein Schock! Und das Schlimmste für die Helfer vor Ort ist, auszuwählen, wer künftig Hilfe bekommt und wer nicht.
Geschäfte mit Hilfslieferungen
Die Gefahr, dass Hilfslieferungen in falsche Hände geraten, ist real. Unter anderem das Assad-Regime steht Berichten zufolge im Verdacht, sich an Hilfslieferungen zu bereichern. Eine Verknappung der Hilfen bei steigendem Bedarf berge Risiken, meint Care-Mitarbeiterin Ibrahim.
"Wenn immer mehr Menschen dringend Hilfe brauchen, steigt die Gefahr, dass Hilfen umgeleitet werden. In einer Situation mit großer humanitärer Not werden Hilfsgüter sehr attraktiv auf dem Markt, egal von welcher Seite. Die Umgebung in Syrien ist dafür sehr empfänglich."
Organisationen fordern langfristige Hilfszusagen
Angesichts der Geberkonferenz für Syrien fordern Hilfsorganisationen, dass sich die internationale Gemeinschaft zu langfristigeren Hilfszusagen für Syrien durchringt. Nur dann bekämen die Menschen im Nordwesten Syriens eine Perspektive, so Ibrahim.
"Was passiert mit den Menschen, wenn es immer nur kurzfristige Finanzierungszusagen gibt? Das heißt: Wir starten - und dann beenden wir Schutzprogramme wieder. Wir öffnen und schließen zum Beispiel Zentren für die Sicherheit von Frauen und Mädchen. Das ist die Folge von kurzfristiger Finanzierung. Sie gibt den Menschen einen Tag Erleichterung und Perspektive - aber ein Leben in Unsicherheit."
"Wenigstens die Arbeit im Müll ist mir geblieben"
Für Familienvater Mohammed aus der Provinz Idlib hat sich zumindest eine kleine Perspektive ergeben: Er verkauft das Plastik, das er im Müll findet, an eine Fabrik, die den Kunststoff einschmilzt und daraus Fäden herstellt. Aus ihnen werden dann Matten und Teppiche gewebt, damit es die Menschen im Winter in ihren Flüchtlingszelten warm haben. So helfen sich die Syrerinnen und Syrer wenigstens ein Stück weit selbst. Mohammed will nicht aufgeben. Er sei im Krieg verletzt worden und könne keine andere Arbeit finden. "Wenigstens die Arbeit im Müll ist mir geblieben. Wir sind dankbar, auch wenn es uns schlecht geht."