Gesundheitssystem Der Türkei laufen die Ärzte davon
Besonders im kurdisch geprägten Südosten der Türkei fehlen Ärzte. Viele wandern ab, denn die Bezahlung ist schlecht und die Missstände sind groß. Nun könnte dem Gesundheitssystem der Kollaps drohen.
Viele Menschen in Diyarbakir müssen lange auf Facharzt-Termine warten. Denn in der Großstadt fehlen Ärzte, vor allem Fachärzte. Viele Mediziner sehen im kurdisch geprägten Südosten des Landes keine Zukunft mehr.
Die Gründe: Die Bezahlung ist schlecht, das Gesundheitswesen oft marode und der politische Druck hoch. Dem Gesundheitssystem könnte der Kollaps drohen, sagt der Vorsitzende der Ärztekammer.
Protest kaum möglich
Vor dem lokalen Krankenhaus in Diyarbakir im kurdisch geprägten Südosten der Türkei soll es eine Kundgebung von Ärzten geben. Sie wollen gegen die massiven Missstände im Gesundheitssystem protestieren.
Doch ein Großaufgebot an Sicherheitskräften hindert sie daran, denn der Staatsapparat hat ein Versammlungsverbot verhängt. Da die Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan drei Bürgermeister der pro-kurdischen Partei in der Region abgesetzt hat, befürchtet man nun Proteste gegen diese Zwangsmaßnahme.
Viele Ärzte sind dennoch gekommen. Ihr Ärger ist groß. Der Politik werfen sie jahrelanges Versagen und eine verfehlte Gesundheitspolitik vor.
Auch Ali Kilic ist da. Er arbeitet seit 16 Jahren als Arzt in einem Krankenhaus. "Die Probleme werden immer größer", sagt er. Er komme mit den Behandlungen nicht mehr nach, deshalb nehme auch die Gewalt seitens der Patienten zu. Unbequeme Ärzte, die diese Missstände thematisieren, würden "von der Verwaltung gemobbt".
Vor dem Krankenhaus in Diyarbakir wollen Ärzte gegen die Missstände im Gesundheitssystem protestieren.
"Bis 70 Patienten am Tag"
Einige Kilometer weiter, in Baglar, einem Stadtteil von Diyarbakir, arbeitet Muhammet Can in einem kleinen Gesundheitszentrum. Mit viel Engagement, aber unter schwierigen Bedingungen. Denn seine Patienten kann er hier nur mit dem Nötigsten versorgen, nur Untersuchungen vornehmen, Diagnosen stellen.
Termine bei Spezialisten kann er meist nicht vermitteln. Wenn doch, sind die Wartezeiten lang. Überall fehlten Fachärzte, sagt er. Gerade behandelt der 32-jährige Allgemeinarzt den Rentner Abdülkair Topalan. Der sagt, dass er nun schon seit mehreren Wochen auf eine MRT-Untersuchung wartet.
In die gerade boomenden privaten Krankenhäuser könne er aber nicht gehen, da diese für ihn viel zu teuer seien. Can kann ihm nur mit Medikamenten helfen. Er wirkt resigniert: "Ich muss wie ein Notfall-Arzt arbeiten. Manchmal muss ich 60 bis 70 Patienten am Tag behandeln. Wie kann das funktionieren? Wie soll das gehen?"
Deshalb will Can Diyarbakir und die Türkei verlassen, auch wenn er gegenüber den Menschen hier ein schlechtes Gewissen hat. Viele Patienten kennt er schon lange. Sie kommen zu ihm, seitdem er im Gesundheitszentrum arbeitet.
Doch er geht offen mit seinem Auswanderungswunsch um. Die Reaktion einer Patientin spricht Bände: "Geht nicht! Wenn Du gehst, was machen wir dann?", sagt eine ältere Frau, die vor seinem Arztzimmer wartet.
Gesundheitssystem vor dem Kollaps?
Der Vorsitzende der Ärztekammer in Diyarbakir, Veysi Ülgen, beobachtet diese Entwicklung mit großer Sorge. Jede Woche muss er mindestens drei Bescheinigungen an Ärzte ausstellen, die auswandern wollen. Ülgen kritisiert das, kann aber auch verstehen, dass viele junge Ärzte hier keine Perspektive mehr sehen.
Dem Gesundheitssystem drohe aber nun der Kollaps. Denn in manchen Bereichen gebe es kaum mehr Fachärzte. Die Patienten müssten dann in die großen Städte wie Adana, Ankara oder Istanbul zur Behandlung gehen, so Ülgen. Den meisten fehle aber dazu das nötige Geld.
Die fortschreitende Privatisierung des Gesundheitswesens durch den Staat sei grundlegend falsch, sagt Ülgen am Schluss vorsichtig. Er muss vorsichtig sein, denn der Chef der Ärztekammer war schon einmal wegen Kritik an der Regierung vom Dienst suspendiert worden.
Dimen und Muhammet Can lernen Deutsch, da sie die Türkei verlassen und in Deutschland eine Praxis aufbauen wollen.
Neubeginn in Deutschland
Nach der Arbeit lernt Muhammet Can zusammen mit seiner Frau Dimen Deutsch. Beide wollen nach Deutschland auswandern, haben den Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis gestellt. Dazu müssen sie das Level B2 erreichen, die nächste Stufe wird vor Ort geprüft.
Doch beide sind trotz der langen Wartefristen optimistisch, das zu schaffen. Vor allem ihren Kindern wollen sie eine bessere Zukunft ermöglichen, sagt Muhammet Can. Denn von seinem Gehalt könne er kaum noch leben. Die seit Jahren hohe Inflation mache ein geregeltes Leben unmöglich.
Muhammet und Dimen Can wissen, dass sie in Deutschland von vorne beginnen müssen. Doch sie sind jung, gut ausgebildet und träumen von einer eigenen Arztpraxis - ohne Bevormundung vom Staat.
Andere Ärzte wollen aber bleiben, für Reformen und Verbesserungen kämpfen. In Diyarbakir kann die angekündigte Kundgebung schließlich trotz Verbots stattfinden. Doch viele hat das riesige Polizeiaufgebot abgeschreckt. Der Aufruf zu Reformen im Gesundheitssystem durch den Chef der Ärztekammer bleibt deshalb weitgehend ungehört.
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