Femizide in der Türkei Ermordet, obwohl Behörden das Risiko kannten
Trotz gerichtlicher Anordnungen, sich von ihnen fernzuhalten, haben in der Türkei mehrere Männer ihre Ex-Partnerinnen ermordet. Ein Bericht von Human Rights Watch zeigt, wie der Staat beim Frauenschutz versagt.
Im Juni vergangen Jahres erschießt der Türke Esref A. seine 38-jährige Frau Yemen vor ihrem Haus in der zentralanatolischen Stadt Aksaray, so ein Bericht des Türkeibüros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Zuvor hatten Gerichte A. viermal aufgefordert von seiner Frau Abstand zu halten, nachdem er sie im Zuge eines Scheidungsverfahrens wiederholt belästigt hatte.
Ein Anwalt der Opferfamilie sagte der Menschenrechtsorganisation, A. habe auch nach der dritten und der vierten gerichtlichen Anordnung seine Frau aufgesucht und bedroht. Jedoch habe das Gericht keinerlei Konsequenzen - wie etwa eine Kurzzeithaft - gezogen, weil laut Gericht die Beweise für die Missachtung der Anordnung sowie die Bedrohung fehlten.
Dies ist nur einer von mehreren Fällen, in denen es der türkische Staat aus Sicht der Menschenrechtsorganisation versäumt hat, Frauen vor ihren Peinigern zu schützen und so den vorhersehbaren Gewaltexzess zu verhindern.
Ehemänner, geschiedene Männer, ehemalige Partner
Ein 86-seitiger Bericht mit dem Titel "Häusliche Gewalt in der Türkei bekämpfen - die tödliche Folge von mangelndem Schutz" zeigt auf, wie Ehemänner, geschiedene Männer oder ehemalige Partner türkische Frauen belästigen oder angreifen, obwohl eine Gerichtsanordnung genau das unterbinden sollte.
Die Fälle wurden im Zuge des Ausstiegs der Türkei aus der Istanbuler Konvention untersucht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Ausstieg unter anderem damit begründet, dass die Türkei ausreichende Gesetze habe, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen.
Zwar reagierten Polizei und Gerichte in der Türkei auf Klagen von Frauen über häusliche Gewalt mit entsprechend strengeren Anordnungen, jedoch führe die Nichtumsetzung der Anordnungen zu einer gefährlichen Lücke beim Schutz der Klägerinnen, so Emma Sinclair-Webb, Leiterin des Türkeibüros von Human Rights Watch.
Die Nichtumsetzung der Anordnungen habe zur Folge, dass Frauen, die eigentlich "auf dem Radar der Behörden sind, von ihren Peinigern ermordet werden oder jahrelang wiederholten Übergriffen ausgesetzt sind."
Behörden kannten Risiko
Human Rights Watch führte in 18 Fällen häuslicher Gewalt Interviews mit Opfern, deren Anwälten, Polizisten, Richtern und Staatsanwälten. In sechs Fällen, so die Menschenrechtsorganisation, seien die Frauen ermordet worden, obwohl die Behörden wussten, dass die Betroffenen in einem erheblichen Risiko ausgesetzt sind.
Missachtungen von Gerichtsanordnungen, die Peiniger dazu auffordern von den Opfern Abstand zu halten, würden nicht in den entsprechenden Akten vermerkt werden, kritisiert Human Rights Watch.
Merzuka Altunsögüt, ein Opfer häuslicher Gewalt, beklagt sich, sie habe vom Gericht eine Anordnung ausgehändigt bekommen, die ihren geschiedenen Ehemann abhalten sollte, ihr zu nahe zu kommen. Er würde nicht wieder auftauchen, sei ihr versichert worden. Aber am folgenden Tag sei sie von der Arbeit heimgekommen und er habe erneut an der Tür auf sie gewartet.
In verschiedenen Fällen habe erst ein Interview mit türkischen Medien dazu geführt, dass die Polizei oder die Gerichte mit mehr Nachdruck das Einhalten der Anordnungen einforderten. Zahlreiche Betroffene oder deren Familienangehörige würden die sozialen Medien nutzen, um auf die Fälle aufmerksam zu machen.
Ministerien wollen sich nicht äußern
Human Rights Watch hat das türkische Justizministerium und das türkische Familienministerium um Stellungnahme gebeten, jedoch keine Antwort erhalten. Bei den sechs untersuchten Morden wurden sämtliche Täter verurteilt und bestraft.
Die Tatsache, dass im Vorfeld der Morde klar war, dass die Täter wiederholt Gerichtsanordnungen missachteten und die Behörden keinerlei Maßnahmen ergriffen, um den Anordnungen beispielsweise durch vorübergehende Haft mehr Nachdruck zu verleihen, sei den Behörden bisher keine Untersuchung wert gewesen, so die Menschenrechtsorganisation.