Türkei und Nordsyrien Erdogans unbeachteter Krieg
Seit Anfang Oktober greift die Türkei fast täglich Militärposten der Kurdenmiliz YPG sowie die zivile Infrastruktur im Nordosten Syriens an. Es ist ein Zermürbungskrieg.
Normalerweise hat Michael Wilk nur Medikamente und seine Arzttasche dabei, wenn er als Notfallmediziner in die syrische Region Rojava reist, um Verletzte zu behandeln. Doch dieses Mal fuhr der deutsche Arzt auch mit einer Spende im Gepäck in das autonom verwaltete Gebiet im Nordosten Syriens, wo früher die Terrormiliz IS herrschte. Sein Ziel: Die Übergabe der Spende des Vereins "Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane e. V." für die Instandsetzung der Wasserinfrastruktur in der vom Krieg gebeutelten Stadt Kobane. Zuvor brachte er bereits Spenden in die Stadt Derik im Rahmen der dortigen Städtepartnerschaft mit Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.
Die Bürgermeisterin von Kobane, Rawsan Abdi, und der Arzt Michael Wilk. Die Türkei beschießt das Rathaus der Stadt immer wieder willkürlich, so Wilk.
Das Gebäude der Stadtverwaltung von Kobane steht nur wenige Meter von der Grenze zur Türkei entfernt. Während der kleinen Zeremonie im Rahmen der Spendenübergabe fiel Wilk ein Loch in der Wand auf. Co-Bürgermeisterin Rawsan Abdi führte Wilk daraufhin in den Flur.
"Dort sah ich 20 Einschusslöcher an der Wand, die Richtung türkischer Grenze lag. Ich erfuhr, dass das Rathaus immer wieder und willkürlich von türkischen Grenzposten mit schweren Maschinengewehren beschossen wird. Die Mitarbeitenden sind dem Einschlag der Kugeln ausgesetzt."
Michael Wilk auf den Trümmern eines Krankenhauses bei Derik. Seit Anfang Oktober greift die Türkei die Region fast täglich an.
Fast tägliche Angriffe
Seit Anfang Oktober greift die Türkei fast täglich mit Hilfe von Drohnen, Haubitzen und Kampfflugzeugen Militärposten der Kurdenmiliz YPG, aber auch die zivile Infrastruktur im Nordosten Syriens an. Zu den Zielen gehören Wasserwerke, Ölraffinerien, Umspannwerke und auch zwei leerstehende Krankenhäuser.
Die neue Offensive rechtfertigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit dem Recht auf Selbstverteidigung, nach dem Anschlag in Ankara am 1. Oktober. Zwei Terroristen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hatten versucht, ins Innenministerium einzudringen.
Die Region Rojava im Nordosten Syriens wird von der PKK-nahen Kurdenmiliz YPG kontrolliert und damit von der Türkei als Gebiet einer Terrororganisation eingestuft. Der Türkei-Experte Salim Cevik von der Stiftung Wissenschaft und Politik kritisiert das Vorgehen Erdogans. "Unabhängig davon, ob die Anschläge in Ankara tatsächlich mit Syrien in Verbindung stehen, sind die Angriffe der Türkei gegen die kurdische YPG als Reaktion nicht angemessen."
Feind der Türkei, Partner der USA
Schon seit Jahren lässt Erdogan völkerrechtswidrige Angriffe auf den gesamten Norden Syriens durchführen. In die multi-ethnische Region Afrin waren 2018 türkische Truppen einmarschiert. Heute wird es von konservativ-islamischen, Erdogan-nahen Kräften dominiert.
Weiter östlich, in Rojava, gebe es seitdem einen Zermürbungskrieg niedriger Intensität, erklärt Michael Wilk. "Es ist alltäglicher Terror mit der Besonderheit, dass dieser Terror von einem NATO-Staat ausgeht."
Für die USA dagegen sind die Selbstverwaltung in Rojava und die Kurdenmiliz YPG ein Partner im Kampf gegen den IS. Als wichtige Stütze der internationalen Allianz gegen die Islamisten kämpfen sie bis heute gegen Terrorzellen, die noch immer in der Region aktiv sind.
Selbstverwaltung mit demokratischen Grundsätzen
Im Laufe des Krieges haben die Menschen im Nordosten Syriens eine Selbstverwaltung mit demokratischen Grundsätzen aufgebaut. Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionsfreiheit und das Verbot der Todesstrafe spielen hier eine zentrale Rolle. Wilk sieht hier ideologisch einen "diametralen Unterschied zu konservativen Regierungen wie dem autokratischen Erdogan-Regime in der Türkei, wo Oppositionelle in Gefängnissen sitzen und die Arbeit der Presse eingeschränkt wird".
Die Angriffe durch die Türkei stellten mittlerweile eine extreme psychische Belastung für die Menschen in Rojava dar, so Syrien-Experte Thomas Schmidinger von der Universität Wien. "Die Menschen denken an Flucht, weil sie es nicht aushalten, immer von türkischen Drohnen bedroht zu werden und mit der ständigen Gefahr leben zu müssen, aus der eigenen Heimat vertrieben zu werden."
Michael Wilk beschreibt die Lage der Menschen so: "Wenn jemand mit seinem Traktor übers Feld fährt, schlagen Granaten oder Bomben ein. Wer seinen Acker bestellt, tut dies unter Lebensgefahr." Daher sei die Grenzregion in manchen Teilen entvölkert, ganze Ortschaften stünden leer.
Keine Reaktionen des Westens
"In Europa herrscht eine Doppelmoral, wenn man einerseits Erdogan hofiert und ihm die Hand reicht, obwohl er Menschen attackiert, terrorisiert und Tausende in die Flucht treibt", meint Wilk. "Wenn er demnächst nach Deutschland kommt, werden blutige Hände geschüttelt, wenn man diesen Mann willkommen heißt."
Thomas Schmidinger sieht Europa als außenpolitisch handlungsunfähig. Nicht nur ein möglicher Flüchtlingspakt sondern auch die Vermittlungsposition der Türkei im Krieg gegen die Ukraine gäben Erdogan den politischen Spielraum für seine Politik in Nordsyrien. "Die Kurden in der Region wissen sehr gut, dass sie sich auf ihre Bündnispartner nicht verlassen können."
Kritik des Westens bliebe größtenteils aus. Zwar lassen die vor Ort stationierten US-Truppen eine Bodenoffensive der Türkei unwahrscheinlich erscheinen, so Türkei-Experte Cevik. Die Intensität der aktuellen Angriffe könne Erdogan jedoch auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten. Viele Menschen vor Ort fühlen sich international allein gelassen.
Chance für den IS?
Für Wilk ist es eine bedrückende Lage: "Nachdem die Nordsyrer maßgeblich daran beteiligt waren, den IS zu zerschlagen, müsste der Westen eigentlich dazu verpflichten sein, dort eine massive zivile Wiederaufbauhilfe zu leisten. Das würde auch helfen, dass sich die Menschen nicht auf die Flucht begeben. Das Gegenteil ist aber der Fall."
Eine Folge dieses Konflikts ist das Erstarken islamistischer Milizen in der Region. Anhänger des IS hatten bereits die Situation nach dem verheerenden Erdbeben im Februar genutzt, um vermehrt Anschläge zu verüben. In Nordsyrien befindet sich das Lager Al-Hol, wo etwa 50.000 gefangene IS-Anhänger leben - bewacht von zunehmend überforderten Kräften der nordsyrischen Selbstverwaltung. In der Vergangenheit konnte ein Aufstand in Al-Hol nur mit Hilfe des US-Militärs niedergeschlagen werden. Eine weitere Destabilisierung der Region könnte dem IS in die Karten spielen.
Schraffiert: Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (Rojava)
Ziele der Türkei
Türkei-Experte Cevik vermutet, Erdogan wolle mit seinen Angriffen einen Korridor zwischen dem eigenen Land und dem Gebiet der Kurden errichten, um dort syrisch-arabische Migranten aus der Türkei anzusiedeln.
Thomas Schmidinger sieht zudem die Befürchtung der Türkei, ein funktionierendes kurdisches Autonomiegebiet in Nordsyrien könne auch bei türkischen Kurden zu stärkeren Unabhängigkeitsbestrebungen führen.
Der Arzt Wilk blickt mit Sorge in die Zukunft: "Dass das NATO-Land Türkei auf der einen Seite womöglich Millionenbeträge bekommt, um Flüchtlingsströme zurückzuhalten und auf der anderen Seite massiv dazu beiträgt, dass sich Flüchtlingsströme überhaupt in Bewegung setzen, ist wahnwitzig."
Er will sich weiter in der Region Rojava engagieren - als Notfallmediziner in kurdischen Krankenhäusern und als Überbringer von Spenden aus Deutschland. Nur so ließen sich Fluchtursachen wirksam bekämpfen.
In einer früheren Version schrieben wir, dass Michael Wilk in Kobane eine Spende im Rahmen der Städtepartnerschaft mit Berlin Friedrichshain-Kreuzberg übergeben hat. Richtig ist, dass die Spende vom Verein Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane e. V. kam. Zuvor war Herr Wilk in Derik und hat dort eine Spende von der Städtepartnerschaft mit Berlin Friedrichshain-Kreuzberg übergeben.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen