Protestbewegung in Belarus Die Revolution der Frauen
Die Wahlkandidatin Tichanowskaja war nur der Anfang: Frauen haben die Oppositionsbewegung in Belarus stark gemacht. Von einem Wandel der Gesellschaft haben sie am meisten zu gewinnen.
Von Jasper Steinlein, tagesschau.de
Viele Szenen aus Belarus, die derzeit um die Welt gehen, sind von Frauen geprägt: Das Victory-Zeichen einer jungen Frau vom Rücksitz eines Motorrollers, der in Minsk an einem schildbewehrten Polizeikordon vorbeibraust. Das energische "Ich gehe spazieren!" einer hageren alten Dame, die sich mit weiß-rotem Banner unter Applaus den Weg an maskierten Spezialkräften vorbeibahnt. Die weißen Kittel der vielen Ärztinnen und Pflegerinnen, die nach der massenhaften Verhaftung und Misshandlung Demonstrierender auf die Straße gingen und ein Ende der Gewalt forderten.
Das Gesicht der Proteste in Belarus ist weiblich - und das ist kein Zufall. Der Erfolg der Oppositionsführerinnen um Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja bei der Bevölkerung zeigt, dass sich nach 26 Jahren unter Präsident Alexander Lukaschenko etwas Grundsätzliches verändert hat: "Die belarussische Gesellschaft ist noch immer eine ziemlich patriarchale", sagt die Politologin Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. "Aber wir haben zum Beispiel in mehreren Videos aus Fabriken gesehen, wie die Arbeiter die Hand erheben, wenn jemand fragt: 'Wer hat für Tichanowskaja gestimmt?' Sie haben keine Scheu mehr, das zuzugeben." Dass die Leute massenhaft bereit gewesen seien, für eine ehemalige Hausfrau abzustimmen, sei ein Anzeichen, wie sich durch die Unzufriedenheit mit Lukaschenko das Denken geändert hat.
Tichanowskaja machte sexistische Anfeindungen zu ihrer Stärke
Denn dessen sexistisches Weltbild ist bekannt: Ohne Ironie verkündet er Sprüche wie "Die Bestimmung der Frau ist es, die Welt zu schmücken" oder "Jetzt tragen die Frauen ja auch Hosen, aber das passt doch nicht" und fordert die Belarussinnen auf, mindestens drei bis vier Kinder zu bekommen. So unterschätzte Lukaschenko auch seine stärkste Gegenkandidatin: Was gebe es mit einer Frau schon an Politischem zu besprechen, sie habe doch gerade erst die Kinder gefüttert, sagte er vor der Wahl.
Tichanowskaja machte die sexistischen Anfeindungen zu ihrer Stärke, indem sie damit kokettierte: Sie wolle nicht an die Macht, sagte sie im Wahlkampf. "Ich will nur zu meinem Mann und meinen Kindern zurück und wieder Bouletten braten."
Auch als sie sich nach ihrer Ausreise nach Litauen verletzlich zeigte und selbst als "schwache Frau" bezeichnete, die dem Druck einer mutmaßlichen Erpressung nicht standhalte, verlor sie dadurch nicht an Strahlkraft. Im Gegenteil: "Die Frau ist in Belarus jetzt ein Symbol für Frieden und die gewaltfreie Lösung dieses Konflikts", beschreibt die Politologin Dryndova.
Das Frauenteam der Opposition: Maria Kolesnikowa, Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo. Sie wurden von Lukaschenko unterschätzt - und zu Symbolfiguren.
Frauen nehmen die Rolle der "Friedensbewegung" ein
Die Präsenz von Frauen bei den Straßenprotesten habe sich nach drei Nächten bespielloser Gewalt des Sicherheitsapparats gegen die Demonstranten stark erhöht: "Die Gewalt richtete sich vor allem gegen Männer, da diese vor allem nachts protestierten und sich den uniformierten Spezialkräften entgegenstellten". Die Frauen hätten darauf reagiert, indem sie in weißer Kleidung und mit weißen Blumen Menschenketten als Zeichen der Solidarität bildeten.
"Das hat sich extrem schnell über das ganze Land verbreitet. Sie haben die Rolle der Friedensbewegung eingenommen", erklärt Dryndova. "Man dachte erst: Wenn es so weitergeht, dass jeden Tag Menschen getötet und geschlagen werden, werden immer weniger Leute auf die Straße gehen - und dann ist es schnell vorbei. Doch dann haben diese Frauen dem Ganzen eine andere Richtung geben."
Oft setzen die Belarussinnen, die sich dem Brutalismus des autoritären Staats entgegenstellen, ganz bewusst traditionell weibliche Akzente: Große Aufmerksamkeit etwa fand die Künstlerin Rufina Baslowa, die ikonische Bilder der Proteste zu Stickmustern macht.
Frauen hatten die direkten Folgen der Proteste zu tragen
Bei aller Traditionsliebe haben Frauen von einem Wandel der belarussischen Gesellschaft am meisten zu gewinnen. Daten der nationalen Statistikbehörde Belstat von 2018 zeigen: Obwohl Frauen häufiger an Hochschulen ausgebildet und berufstätig sind, verdienen sie im Durchschnitt nur drei Viertel eines Männereinkommens - und verbringen zusätzlich doppelt so viel Zeit mit unbezahlter Haushalts- und Fürsorgearbeit. Mit ihrer niedrigeren Rente müssen sie auf Grund der Lebenserwartung, die zehn Jahre höher als die der Männer liegt, deutlich länger auskommen - oder eben weiterarbeiten.
In den zwei Parlamentskammern stellen Frauen nicht einmal ein Drittel der Abgeordneten, in staatlichen Führungspositionen sind es 35 Prozent. Und während Männer fast 100 Prozent des Sicherheitsapparats stellen, sind sie im Bildungs- und Medizinsektor von Belarus kaum anzutreffen - somit waren es Frauen, die die Verletzten versorgten und damit die Folgen der Proteste auffingen.
"Beendet die Gewalt!" steht auf einem Transparent, dass Mitarbeiterinnen einer Klinik in Minsk hochhalten.
Feministische Kritik an den romantischen Bildern
Die Demonstrationen markieren somit nicht nur einen historischen Moment in der belarussischen Politik, sondern auch in der Gesellschaft: "Es ist das erste Mal, dass Frauen nicht mehr politische Objekte sind, sondern Subjekte. Sie zählen, sie sprechen für sich selbst und treffen Entscheidungen, die Leute haben großen Respekt vor ihnen", sagt die feministische Aktivistin Vika Biran aus der Stadt Pinsk dazu.
Sie sieht die Rolle, die die Frauen sich selbst bei den Protesten geben, aber auch mit Skepsis: "Romantische Bilder von Frauen in langen weißen Kleidern, die weiße Blumen in den Armen halten und Liebe und Akzeptanz verbreiten - das ist cool und westliche Medien mögen diese Bilder sehr. Das ist aber nur eine Seite der feministischen Revolution", sagt sie.
Nicht alle von Frauen verbreiteten Botschaften sind feministisch: "Lukaschenko, tritt mit Stil ab!" und "Lookaschenko ist nicht im Trend" steht auf den Plakaten dieser Demonstrantinnen in Minsk.
Viele Feministinnen hätten es zum Beispiel nicht begrüßt, dass Frauen die gepanzerten OMON-Polizisten umarmten, die oder deren Kollegen gerade erst Demonstranten zusammengeschlagen hätten - oder auch, dass wenig Raum für andere Formen von Weiblichkeit bleibe: "Ich bin mir sicher, dass die Oppositionskandidatinnen nicht für die Perspektive queerer Menschen offen sind. Die wurden in ihren Reden nicht angesprochen", sagt Biran. Dennoch sieht sie die momentanen Demonstrationen pragmatisch: "Jetzt ist nicht die Zeit, um Slogans zu kritisieren oder mit Regenbogenflaggen in die Proteste zu gehen. Denn das würde ganz anders wahrgenommen werden, als es gedacht ist und alles zunichte machen, das erreicht wurde."
Viele Belarussinnen lebten noch immer in einem Zustand der "erlernten Hilflosigkeit" - doch das ändere sich gerade: Das wichtigste sei, dass ihre Stimmen jetzt gehört werden. "Vielleicht können sie zumindest kleine Dinge in ihrem Leben verändern", meint Biran. "Damit auch meine Mutter raus auf die Straßen gehen kann, um zu demonstrieren."