Proteste in Bosnien-Herzegowina Ein Staat vor dem Scheitern
EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton will bald nach Bosnien-Herzegowina reisen und auch dort Krisengespräche führen. Denn in dem Balkan-Staat gibt es ebenfalls Proteste. Gelingt dort keine Lösung, steht der Staat endgültig vor dem Scheitern.
"Dies führt zu nichts", dachte US-Außenministerin Condoleezza Rice, als sie 2005 mit der Staatsführung Bosniens über eine Verfassungsreform des Balkan-Staates verhandeln wollte. Zu dem Gespräch im US-Außenministerium war nicht ein Präsident erschienen sondern drei: Ein Kroate, ein Serbe und ein bosnischer Muslim. Immer, wenn sie das Wort ergriff, musste sie alle drei beim Namen ansprechen und danach jedem Zeit für eine Antwort geben, erinnert sich Rice in ihren Memoiren.
Ihre Bemühungen um eine Verschlankung der komplizierten und ineffizienten Machtstrukturen blieben ohne Erfolg. Immerhin habe sich die Lage nicht verschlechtert, stellte sie 2009 nach ihrem Ausscheiden als Außenministerin fest. Wie Rice scheiterten inzwischen zahlreiche Politiker, Diplomaten und Experten.
Drei Präsidenten, elf Premierminister
Denn noch heute regieren den Staat mit seinen etwa vier Millionen Einwohnern nicht nur drei Präsidenten, sondern auch elf Premierminister und elf Regierungen mit zusammen weit mehr als 100 Ministern. An der Spitze steht eine schwache Zentralregierung, die die Serbenrepublik Srpska und die bosnische Föderation zusammenhalten soll. Letztere besteht noch einmal aus zehn Kantonen. Diese Strukturen sollen der ethnischen und religiösen Vielfalt aus orthodoxen Serben, bosnischen Muslimen und katholischen Kroaten Rechnung tragen.
Doch über all dem steht auch noch der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, derzeit der Österreicher Valentin Inzko. Er kann Amtsträger entlassen, neue Behörden schaffen und Gesetze erlassen oder außer Kraft setzen. Eine UN-Resolution gibt ihm das Mandat dafür. Inzkos Vorgänger nutzten diese Vollmachten mal mehr, wie der Brite Paddy Ashdown, und mal weniger, wie der Deutsche Christian Schwarz-Schilling.
Ein Friedensvertrag, der nicht als Verfassungsvertrag taugt
Grundlage ist der Vertrag von Dayton, den 1995 der US-Diplomat Richard Holbrooke federführend aushandelte mit den Konfliktparteien, die sich seit 1992 in einem Krieg mit mehr als 100.000 Toten bekämpften. Als Friedensvertrag sei das Dayton-Abkommen sehr erfolgreich gewesen, doch als Verfassungsvertrag sehr kompliziert, erklärte Inzko kürzlich dem österreichischen "Kurier".
Der Waffenstillstand zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten hielt. Bosnien blieb als territoriale Einheit erhalten. Doch die Weltgemeinschaft verlor die Balkan-Krise aus den Augen und eine Weiterentwicklung des Dayton-Vertrages verlief im Sande.
Die Friedensordnung entspricht auch nicht wirklich den Wünschen der Bevölkerung. Die Serben wollen sich mit ihrer Republika Srpska so weit als möglich ablösen. Auch die Kroaten fordern mehr Eigenständigkeit, wohingegen die Muslime eine stärkere Zentralisierung anstreben. Die politischen Eliten haben sich hingegen in den von Außen geschaffenen und kontrollierten Strukturen eingerichtet.
Ein bürokratisches, unbezahlbares Monster
Was Gerechtigkeit zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben schaffen sollte, beförderte letztlich Nationalismus und ein bürokratisches Monster, das sich der Staat schlicht nicht leisten kann. Mindestens 40 Prozent der Bosnier arbeiten im staatlichen Sektor. Abgeordnete verdienen nach Angaben der Agentur Reuters 3500 Euro im Monat. Dies sei zehn Mal so viel wie der Durchschnittslohn.
Die Politiker sorgen zudem dafür, dass nicht nur ihre eigene Ethnie, sondern auch ihre eigenen Freunde und Familienmitglieder bevorzugt werden. So ist der Wirtschaftssektor von Korruption und Vetternwirtschaft durchdrungen. Wer ungestört Handel treiben wolle, müsse regelmäßig an unersättliche Parteibonzen und Amtsträger zahlen, schreibt der Balkan-Experte Dusan Reljic auf der Webseite der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die Privatisierung der Wirtschaft sei zu einem Raubzug entartet. Das Justizsystem ist zu schwach entwickelt, um dem Einhalt gebieten zu können.
Front zwischen Profiteuren und Benachteiligten
Diese Strukturen will die politische Elite nicht aufgeben. Auch identifiziert sie sich ebenso wenig wie die Bevölkerung mit dem gemeinsamen Staat. Der Reformstau ist mittlerweile so groß, dass die Annäherung an die EU und der geplante Beitritt immer stärker gefährdet sind. Im vergangenen Herbst sah sich die EU schließlich gezwungen, ihre finanzielle Unterstützung von 108 Millionen Euro für 2013 zu halbieren.
So untergräbt die Elite auf Dauer ihre eigene Basis. Es gibt kaum Investitionen in die Wirtschaft. Stattdessen schreitet die Deindustrialisierung voran. Es fehlt an Jobs und einem fruchtbaren Umfeld für Unternehmensgründungen. Entsprechend wuchs der Frust bei jenen, die nicht wie die Kriegsveteranen von Sozialleistungen profitieren und die aufgrund fehlender Kontakte keine Chance auf einen Job im Staatsdienst haben.
Anfang Februar zündete der Funke. Ein seit längerem dauernder Protest gegen einen Fabrikbesitzer in Tuzla breitete sich in weitere Landesteile aus und schlug in Gewalt um. In diesem Fall verlaufen die Fronten zwischen der benachteiligten Bevölkerung und der politischen Elite. Allerdings nutzte zum Beispiel der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, die Unruhe dafür, die Auflösung des Staatenbundes zu fordern.
Reform oder Zerfall
Angesichts des politischen Unwillens zu Reformen scheint es tatsächlich immer fraglicher, ob das unfertige Gebilde eines Staates einmal funktionieren wird. Damit steht auch in Frage, ob das Kalkül der EU aufgehen kann, dass eine Aufnahme in die übergeordnete Struktur der Union die Interessenunterschiede zwischen Bosniaken, Kroaten und Serben verblassen lässt, ähnlich wie es im Staat Jugoslawien der Fall war.
So plädieren mehrere Außenminister in der EU dafür, Bosnien-Herzegowina eine raschere Perspektive für einen EU-Beitritt aufzuzeigen, um doch noch Reformen voranzubringen, bevor im Oktober die Wähler neue Präsidenten und neue Parlamente wählen. Der britische Außenminister William Hague nannte die Proteste der Bevölkerung einen "Weckruf".
EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle gab jedoch am Dienstag bekannt, seine zweitägigen Beratungen mit Spitzenpolitikern Bosnien-Herzegowinas seien "tief enttäuschend" verlaufen. Er habe daher seine Bemühungen beendet.
Die Perspektiven für Bosnien-Herzegowina erscheinen düster. Entweder gelingt unter dem Druck der Bevölkerung und mit einer enormen Anstrengung doch noch eine grundlegende Reform des Abkommens von Dayton, oder es droht ein Zerfall Bosnien-Herzegowinas. Es wäre genau das, was die Urheber des Vertrages um Richard Holbrooke damals zu verhindern suchten.