EU berät über neue Frist Brexit-Aufschub wird zur Gratwanderung
Die EU-Staaten sind uneins über die Länge des erneuten Brexit-Aufschubs: einige Wochen oder drei Monate? Eine Gratwanderung, denn die Entscheidung dürfte die britische Innenpolitik beeinflussen.
Für die EU ist die Marschrichtung klar. Und EU-Ratspräsident Donald Tusk brachte sie per Tweet auf den Punkt - noch bevor sich die EU- Botschafter der Mitgliedsstaaten gestern Abend trafen, um zu beraten, ob und wie lange man den Briten noch Zeit für den Brexit geben will. Tusk plädierte bereits am Mittwoch dafür, ihnen wie gewünscht eine dreimonatige Verlängerung bis zum 31. Januar zu gewähren.
Der Ratspräsident verärgerte damit Emmanuel Macron. Der französische Präsident ist zwar auch strikt dagegen, dass das Vereinigte Königreich am 31. Oktober ohne einen ratifizierten Scheidungsvertrag die Europäische Union verlässt. Aber Macron will Premierminister Boris Johnson nur bis Mitte November Zeit geben, den Deal mit der EU durch das britische Parlament zu bringen.
Macrons Geduld ist am Ende
Der französische Präsident ist mit seiner Geduld seit langem am Ende. Den Austrittstermin 31. Oktober hatte Macron durchgesetzt - und noch beim EU-Herbstgipfel in der vergangenen Woche darauf bestanden, dass dieser Termin auch eingehalten wird. Auf einen erneuten Aufschub werde man sich nach seiner Einschätzung nicht einigen können, betonte Macron beim Herbstgipfel, um den Druck auf das britische Parlament aufrechtzuerhalten.
Mittlerweile ist der französische Präsident zu einer Verlängerung der Austrittsfrist bereit. Auch wenn er sich über das Vorpreschen von Tusk geärgert hat, wie EU-Diplomaten berichten. Die ständigen Vertreter der Mitgliedssstaaten bekräftigten gestern Abend in Brüssel, dass es auf keinen Fall einen Chaos-Brexit geben dürfe, eine Scheidung ohne Scheidungsvertrag. Und dass die Austrittsfrist für die Briten verlängert werde. Ob nur für zwei Wochen, wie es Macron gerne möchte, oder bis Ende Januar, wie es das britische Parlament erbittet, ist noch offen.
Womöglich bleibt es dabei auch erst einmal: Nach Einschätzung eines ranghohen EU-Vertreters könnten sich die EU-Botschafter heute zunächst nur darauf einigen, dass sie einer Brexit-Verschiebung zwar grundsätzlich zustimmen. Die Entscheidung über das neue Datum würde dann aber bis nächste Woche offenbleiben.
EU hat von Johnson nichts zu erwarten
Eigentlich ist es die Aufgabe des britischen Premierministers, der EU einen Zeitraum zu nennen. Doch von Johnson hat die EU in dieser Angelegenheit wenig zu erwarten. Im Gegenteil: Der britische Premier hat nach Informationen von Diplomaten Macron angerufen und ihm geraten, gegen eine Verlängerung des Austrittstermins zu stimmen - damit er sein vollmundiges Versprechen, die Briten wären am 31. Oktober raus aus der EU, einhalten kann.
Bereits beim Herbstgipfel in Brüssel hatte Johnson Druck auf die Parlamentarier in Westminster ausgeübt, den Brexit-Deal ohne weiteren Aufschub zu verabschieden. Doch nachdem es nun ohne nicht geht, und Johnson sich weiterhin weigert, selber einen Zeitraum zu benennen, muss die EU handeln.
Welches Signal sendet man nach London?
Eine heikle Gratwanderung. Denn indirekt mischen sich die Staats- und Regierungschefs damit in die britische Innenpolitik ein. Setzen sie eine betont kurze Verlängerungsfrist, wie von Macron gewünscht, dann lautet das unausgesprochene Signal ans britische Parlament: "Macht endlich voran mit der Ratifizierung!"
Wenn die EU den Briten hingegen noch bis zum 31. Januar Zeit gibt, heißt die implizite Botschaft: "Lasst Euch Zeit!" Auf die Gefahr hin, dass der Deal im Parlament zerredet wird und letztlich scheitert.
So oder so - die EU muss vor dem 31. Oktober eine Entscheidung treffen. Entweder auf einem Sondergipfel Anfang kommender Woche oder indem sich die EU-Botschafter in Brüssel im Namen ihrer Regierungschefs untereinander abstimmen.
Im Gespräch ist auch eine sogenannte "Flextension" - also eine flexible Verlängerung. Sollten die Briten noch in diesem Jahr den Deal durchs Parlament bringen, könnten sie umgehend die EU verlassen. Wenn nicht, dann würde der 31. Januar als neuer Austrittstermin gelten.
Einen harten Brexit werde es mit der EU auf keinen Fall geben, prophezeit Tusk. Aber nach dem vorliegenden Deal ist das Vereinigte Königreich mit Ausnahme seiner nordirischen Provinz in Zukunft nicht mehr in einer Zollunion mit der EU - und damit ein Drittstaat.
Merkel: Es entsteht ein neuer Konkurrent
Aus Sicht von Bundeskanzlerin Angela Merkel wird Großbritannien damit in Zukunft zu einem Konkurrenten der EU. Und das nicht nur auf dem Feld der Unternehmensbesteuerung und der Forschung, sondern auch im Bereich der Digitalisierung: "In der Frage der Geschwindigkeit - also wie schnell regelt man bestimmte Datenstandards, wie schnell kann man bestimmte Plattformen kreieren, wie kann man die digitale Welt ins Land holen." Da, so Merkel, gebe es jetzt nicht mehr die gleichen Wettbewerbsvoraussetzungen. "Das wird sich auseinander entwickeln. Und da wird man natürlich gucken: Wie erfolgreich ist Großbritannien und wie erfolgreich sind die 27 Mitgliedsstaaten?"
Für die Kanzlerin steht allerdings auch fest, dass Großbritannien nach dem Brexit etwas sehr Entscheidendes verliert: Teil des Binnenmarktes zu sein, stelle auch einen gewaltigen Vorteil dar. "Und ob die Wertschöpfungsketten so tief integriert bleiben oder nicht, das wird in Zukunft natürlich sehr von der Frage abhängen, wie unser Handelsabkommen aussieht und wie viele Barrieren es dann kennt. Und je ähnlicher dann unsere Standards sind, desto einfacher dann der Zugang. Aber das wird sich Großbritannien in den zukünftigen Verhandlungen noch einmal selber überlegen."