Vor Abstimmung über EU-Beitrittsgespräche Die kalte Schulter des R. T. Erdogan
Sollte das EU-Parlament die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aussetzen, dürfte das Präsident Erdogan kalt lassen. Er wird sich bestätigt fühlen: die EU habe die Türkei doch nie gewollt. Nicht unwahrscheinlich, dass er weiter provoziert.
Wenige Tage nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand. Bedenken der Bevölkerung versuchte Staatspräsident Tayyip Erdogan zu zerstreuen: "Der Ausnahmezustand richtet sich keinesfalls gegen die Demokratie, den Rechtsstaat und die Grundrechte." Im Gegenteil: Er solle diese Werte schützen und stärken.
Gegen Rechtsstaat und Grundrechte
Die Realität vermittelte einen anderen Eindruck: Es begann eine Entlassungs- und Verhaftungswelle, wie sie die Türkei seit dem Militärputsch 1980 nicht mehr erlebt hat. Innerhalb von gut vier Monaten verloren 110.000 Staatsbedienstete ihren Job: beim Militär, bei der Polizei, in den Ministerien und an den Universitäten. Ihnen allen wirft die Regierung eine Nähe zum islamischen Prediger Fetullah Gülen vor. Der ehemalige Erdogan-Verbündete gilt Ankara als Drahtzieher des Putschversuchs. Erdogan will das Gülen-Netzwerk bis in die kleinste Verästelung ausräuchern. Dafür verlängert er den Ausnahmezustand monatelang.
Doch nicht nur gegen vermeintliche Anhänger des Predigers Gülen rückt Erdogan zu Felde. Sein Kampf gegen Terrorismus bezieht auch vermeintliche Unterstützer der kurdischen PKK mit ein. Dessen verdächtigt er auch die Parteichefs der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag.
Uneingeschränkte Machtfülle
Insgesamt landeten 36.000 Menschen im Gefängnis. Darunter auch Schriftsteller und Journalisten. Als die Chefredakteure der unabhängigen Zeitung Cumhurriyet verhaftet wurden, war aus Sicht von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz eine rote Linie überschritten. Doch der türkische Regierungschef Binali Yildirim durchkreuzte Schulz‘ Kritik.
Während Erdogan immer mehr politische Gegner kalt stellt, arbeitet er weiter an einem Präsidialsystem für die Türkei. Es würde dem 62-Jährigen eine nahezu uneingeschränkte Macht verleihen. Weil der Regierungspartei AKP die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung fehlt, will Erdogan das Volk abstimmen lassen - über das Präsidialsystem und auch über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Auch das eigentlich eine rote Linie für die EU. Doch gegen Kritik aus dem Ausland scheint Erdogan immun zu sein. "Sollen sie mich doch einen Diktator nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus", sagte er demonstrativ gelassen.
Die Provokationen werden weitergehen
Sollte das EU-Parlament dafür stimmen, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren, dürfte das Erdogan kalt lassen. Er wird sich bestätigt fühlen: die EU habe die Türkei doch nie gewollt. Nicht unwahrscheinlich, dass Erdogan - statt einzulenken - weiter provoziert: Schon vor wenigen Tagen stellte er den Vertrag von Lausanne in Frage und damit auch die seit 1923 geltenden Grenzen der Türkei. Wiederholt hatte Erdogan von einigen Inseln in der Ägäis gesprochen, die doch rein geografisch eindeutig zur Türkei gehörten und nicht zu Griechenland.