EU-Sondergipfel zur Flüchtlingspolitik Gelder verdreifacht, Streitpunkte vertagt
Die EU verdreifacht ihre Gelder zur Rettung von Flüchtlingen - auf neun Millionen Euro monatlich. Doch die Regierungschefs konnten sich nicht darauf einigen, das Einsatzgebiet der Mittelmeer-Mission "Triton" auszuweiten. Streit gab es auch in anderen wichtigen Fragen.
Ohne ein handfestes Ergebnis wollten die EU-Staats- und Regierungschefs Brüssel nicht verlassen. Das war von Anfang an klar: "Wir sind für die Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer nicht verantwortlich, aber wir müssen mit den schlimmsten Konsequenzen fertig werden. Und wir müssen viel mehr tun, um die Menschen zu retten", redete EU-Ratspräsident Donald Tusk den 28 Staats- und Regierungschefs ins Gewissen.
Vor dem EU-Sondergipfel hatte es noch eine Vorbesprechung in kleinerer Runde gegeben. Kanzlerin Angela Merkel drängte auf rasche Erfolge, auf ein Zeichen der Menschlichkeit. Das waren am Ende alle bereit zu geben; auch wenn einige Regierungschefs das Thema genau dabei belassen wollten. Zu einer breiten Debatte über die europäische Asylpolitik kam es am Ende nicht: "Eine bessere Kooperation der Asylpolitik in der EU wird noch beraten", erklärte Merkel am späten Abend.
Immerhin gibt es einen Erfolg in Brüssel, der Flüchtlingen tatsächlich helfen könnte zu überleben, wenn sie sich über das Mittelmeer nach Europa aufmachen: Die EU will mehr Flüchtlinge von in der Regel schrottreifen Kähnen holen. Die derzeit zur Verfügung stehenden Mittel sollen auf neun Millionen Euro monatlich verdreifacht werden: "Wenn das Geld nicht ausreichen sollte, müssen wir eben noch einmal darüber reden", sagte Merkel und ergänzte: "Geld darf hier keine Rolle spielen."
Kein neues Seenotrettungsprogramm
Zuständig für die Flüchtlingsrettung auf dem Mittelmeer bleibt für die EU die Grenzschutzagentur Frontex. Ein neues, eigenes Seenotrettungsprogramm wie das der Italiener unter dem Namen "Mare Nostrum" wird es also nicht geben. Die Mittel entsprechen wohl bald aber wieder dem alten Niveau aus "Mare Nostrum"-Zeiten. Italien hatte in eigener Initiative mit seiner Marine rund 100.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.
Das Programm stieß auf Widerstand und wurde Ende vergangenen Jahres durch die Frontex-Mission in abgespeckter Form weitergeführt. Italien stand in der Kritik, mit dem Programm Schlepper und Flüchtlinge erst "anzulocken". Doch nach der jüngsten Flüchtlingstragödie fiel den EU-Regierungschefs vorerst nichts Besseres ein, als an die italienische Mission - zumindest, was das Volumen betrifft - anzuknüpfen.
Ob mehr Flüchtlinge gerettet werden können, bleibt unklar. Wo die Boote patrouillieren sollen - bisher nur in europäischer Küstennähe -, muss noch festgelegt werden. Viele Boote kentern aber weit draußen im Meer oder wie jetzt geschehen vor der libyschen Küste. In dieser Frage sind die EU-Regierungschefs uneins geblieben.
Deutschland schickt Marineschiffe
Merkel kündigte die Bereitstellung eigener Marineschiffe an: "eine Fregatte und einen Einsatztruppenversorger. Andere Länder haben ebenfalls Angebote unterbreitet", so die Kanzlerin. Der Kampf um Menschenleben soll mit Kriegsschiffen aufgenommen werden.
Verstärkter Kampf gegen Schlepper
Begleitend dazu will die EU aber verhindern, dass Flüchtlinge und Schlepper von ausgeweiteten Rettungseinsätzen angezogen werden - in der vagen, aber keinesfalls berechtigten Hoffnung, auch auf hoher See auf ein Frontex-Schiff zu treffen. Die EU-Regierungschefs wollen den Kampf gegen organisierte Menschenschmuggler aufnehmen, und zwar mit einer militärischen Aktion. Die Schiffe sollen ausfindig gemacht und zerstört werden, noch bevor sie Flüchtlinge an den Küsten Nordafrikas aufnehmen können.
Den Schleppern soll die Geschäftsgrundlage entzogen werden: "Wir müssen die Netzwerke zerschlagen und die Vermögenswerte beschlagnahmen. Wir waren uns alle einig, dass wir dem zynischen Geschäftsmodell der Schleuser die Grundlage entziehen müssen. Das ist natürlich kein einfacher Prozess", sagte Merkel. Frankreich und Großbritannien wurden aufgefordert, sich um ein dafür erforderliches Mandat des UN-Sicherheitsrates zu kümmern.
Cameron: Kein Asyl in Großbritannien
Wenn es um die Rettung Schiffbrüchiger geht, ziehen alle EU-Staaten mit. Nicht aber, wenn es darum geht, Flüchtlinge fair in Europa zu verteilen: "Wir sind mit unseren Schiffen dabei, und wir werden die Menschen im nächsten sicheren Hafen absetzen, und zwar in Italien", sagte Großbritanniens Premierminister David Cameron und fügte hinzu: "Aber diese Menschen werden bei uns keine Möglichkeit haben, Asyl zu bekommen."
Gegenseitige Feindseligkeiten
Die EU-Debatte um feste Flüchtlingsquoten ist vor allem von gegenseitigen Feindseligkeiten bestimmt und von Misstrauen, vor allem gegenüber Italien: "Wir sind bereit, Italien zu helfen. Aber im Gegenzug muss Italien auch bereit sein, alle Flüchtlinge zu registrieren, wie wir das gemeinsam in der EU beschlossen haben", mahnte Merkel - deutliche Kritik an Italiens Regierungschef Matteo Renzi. Bisher klappt die Registrierung noch nicht so, wie sich das jene Länder vorstellen, in die Flüchtlinge aus dem Ankunftsland Italien illegal weiter ziehen. Das noch nicht existente gesamteuropäische Asylrecht bleibt also eine große Baustelle in Brüssel.
Die vor allem von Flüchtlingshilfsorganisationen ins Gespräch gebrachte Idee, mehr legale Fluchtwege nach Europa zu schaffen, spielte in Brüssel keine Rolle. "Die Voraussetzung dafür wäre, dass alle illegalen Fluchtwege verschlossen werden", hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière zuletzt gesagt. Die jetzige Strategie läuft darauf hinaus, die illegalen Fluchtwege humaner zu gestalten - Menschen zu retten, aber die Tore nach Europa nicht viel weiter zu öffnen.
Kritik von Hilfsorganisationen und Parlament
Amnesty International sprach von einer Mission, "die das Gesicht wahrt, aber nicht Menschenleben rettet". Kritik entzündet sich auch im EU-Parlament: "Wir brauchen keine Verdreifachung, wir brauchen zehn Mal mehr Hilfe für die Flüchtlinge", forderte der Fraktionschef der Liberalen, Guy Verhofstadt.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz forderte, die einzelnen EU-Länder müssten mehr für Flüchtlinge tun: "Wenn wir erleben, dass wir heute nur einen deklaratorischen Ansatz haben, der - wenn es in die konkrete Umsetzung geht - schon wieder abgeschwächt wird, dann bekommen wir heftige Diskussionen."
Nicht zuletzt UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hatte die EU aufgefordert, Flüchtlingen zu helfen und sich weniger abzuschotten: "Die EU muss mehr unternehmen, um Menschen zu retten." Das Umdenken in der EU hat aber wohl erst begonnen, und Italien setzt auf scheinbar schnell wirkende Rezepte: "Wir müssen den Schleppern den Krieg erklären. Wir werden gegen Schlepper vorgehen können, wenn wir uns mit den afrikanischen Staaten für derartige Aktionen einsetzen", erklärte Renzi.
Sondergipfel mit Afrikanischer Union
Dazu soll auch ein weiterer EU-Sondergipfel mit den Staaten der Afrikanischen Union gehören, "noch in diesem Jahr auf Malta", kündigte der maltesische Regierungschef Joseph Muscat auf Twitter an. Es wäre der erste Schritt für eine bessere Kooperation mit afrikanischen Staaten.
Seit dem Sturz des libyschen Diktators Muammar al Gaddafi 2011 streiten dort mehr als 15 Konfliktparteien um Macht und Einfluss, unter anderem ein Ableger der Terrororganisation "Islamischer Staat". In Libyen profitieren Schlepperbanden von den chaotischen politischen Verhältnissen. Merkel zeigte wenig Hoffnung, dass Europa hier schnell eine stabile Regierung vorfindet, die bereit ist, mit der EU in der Flüchtlingspolitik zusammenzuarbeiten.