Interview

Zehn Jahre EU-Osterweiterung "Historisch einmaliges Ereignis"

Stand: 01.05.2014 02:41 Uhr

Vor genau zehn Jahren nahm die EU zehn Länder als neue Mitglieder auf. Der Politologe Wolfgang Wessels bezeichnet die Osterweiterung im tagesschau.de-Interview als historisches Ereignis - auch mit Blick auf die aktuelle Krise in der Ukraine.

tagesschau.de: In der Krise um die Ukraine spielen die Länder der EU-Osterweiterung wie Polen und die baltischen Staaten eine wichtige Rolle. Wäre diese Einigkeit auch ohne die Aufnahme in die EU vor zehn Jahren möglich gewesen?

Wolfgang Wessels: Durch die Aufnahme der Länder vor zehn Jahren ist die Einflusszone der EU weiter nach Osten verschoben worden und das ist auch angesichts der aktuellen Lage zumindest nicht von Nachteil. Es ist gut, dass einige Länder mehr nun ihre Stimmen erheben können und sich dabei einer gewissen Unterstützung sicher sein können.

Zur Person

Wolfgang Wessels hat seit 1994 den Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europapolitik an der Universität zu Köln inne. Der 66-Jährige forscht seit Jahrzehnten zur Entwicklung der EU und ist seit 2002 Vizepräsident des "Arbeitskreises Europäische Integration".

tagesschau.de: Wäre in dieser Logik die Ukraine nicht auch ein potenzieller EU-Beitrittskandidat?

Wessels: Die jetzige Regierung in Kiew wird das sicherlich so sehen und auch in anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft, wie Georgien, herrscht eine ähnliche Stimmung. Die EU hat aber beschlossen, dass diese Länder nicht den Kandidaten-Status bekommen, weil sie von wichtigen politischen und wirtschaftlich Kriterien immer noch weit entfernt sind.

tagesschau.de: Ist der Ukraine-Konflikt letztlich auch ein Tauziehen zwischen Brüssel und Moskau um Einflusssphären in Osteuropa?

Wessels: Das wird in Moskau sicher so gesehen. Der Kreml treibt ja parallel zur EU-Osterweiterung die Eurasische Union voran, vor allem mit Blick auf die wirtschaftliche Kooperation. Aber auch in der EU hatte die Erweiterung immer eine sicherheitspolitische Komponente, auch wenn das nicht immer so explizit formuliert wurde. Die Ost-Erweiterung der NATO spielt da ebenfalls eine Rolle.

Die zentrale Frage ist deshalb auch nicht, was genau in dem Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine drin steht, sondern wie es von den Akteuren gesehen wird. Diese Erkenntnis dürfte auch die Entscheidung der EU beeinflusst haben, keine direkten Beitrittsverhandlungen mit Kiew aufzunehmen. Denn das würde von Moskau in jedem Falle als Konfrontation verstanden.

Droht die "Überdehnung" der EU?

tagesschau.de: Am 1. Mai 2004 kamen zehn neue Staaten hinzu, mittlerweile hat die Europäische Union sogar 28 Mitglieder - ist sie angesichts dieser Größe noch handlungsfähig?

Wessels: Es ist klar, dass ein so großer Raum mit fast 500 Millionen Einwohnern und vielen verschiedenen politischen Systemen nicht immer einfach zu organisieren ist. Aber die EU ist nicht so instabil, wie einige vor der Erweiterung 2004 befürchtet haben. Die Abstimmungsprozesse etwa laufen immer noch recht flüssig, auch wenn man natürlich mit mehr Menschen sprechen muss, um einen Kompromiss zu finden.

tagesschau.de: Aktuell führt Brüssel Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Serbien und Montenegro, es gibt weitere (potenzielle) Kandidaten - wie weit kann die EU noch wachsen?

Wessels: Die Gefahr einer Überdehnung ist natürlich latent gegeben. Es gab in der Geschichte immer wieder Gebilde, die damit ihrer Größe zu kämpfen hatten, etwa die Sowjetunion. Es hängt aber immer stark davon ab, wie eine solche Union gelebt wird, also wie aktiv sich die Mitglieder beteiligen und wie kompromissbereit sie sind. Und das klappt in der EU im Moment recht gut. Deshalb bin ich optimistisch, dass die Union nicht aus allen Nähten platzen wird.

Größe als Grund für Verdrossenheit?

tagesschau.de: Ist die Größe aber nicht auch ein Grund für die EU-Verdrossenheit? Die wenigsten Deutschen werden alle Mitgliedsstaaten nennen können.

Wessels: Ich glaube, dass auch nicht alle ohne weiteres die 16 deutschen Bundesländer benennen können, das allein kann also nicht der Grund sein. Da spielen andere Fragen, wie die Bürokratie oder auch die jüngste Wirtschaftskrise eine größere Rolle. Wir sollten diese Verdrossenheit aber auch zum Anlass nehmen, um Fehler - die zweifelsohne vorhanden sind - zu beheben. Ein wichtiges Thema wäre da zum Beispiel mehr Transparenz.

"Umringt von Freunden"

tagesschau.de: Wenn sie nach zehn Jahren Bilanz ziehen: Wie hat die EU von der Osterweiterung profitiert - und was hat sie Deutschland gebracht?

Wessels: Es ist ein historisch einmaliges Ereignis, dass die europäischen Staaten, die sich über Jahrhunderte immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen bekriegt haben, nun gemeinsame Sache machen und sich friedlich an einen Tisch setzen können, um über mögliche Differenzen zu reden. Und die Osterweiterung ist ein weiterer Schritt in diese Richtung, und das dürfen wir nicht vergessen. Außerdem ist die Union weltpolitisch bedeutsamer geworden: Wir werden mehr gehört und können mehr Einfluss nehmen.

Das gilt auch für uns Deutsche: Wir leben in einem stabilen Umfeld, das ist für unsere politische und wirtschaftliche Entwicklung von enormer Bedeutung - auch wenn man das im Alltag nicht immer direkt spürt. Dazu kommen aber auch ganz praktische Dinge, wie die Reisefreiheit im Schengen-Raum. Auch dass die Verbraucherpreise so niedrig sind, ist zumindest zum Teil eine Folge des gemeinsamen Binnenmarktes.

tagesschau.de: Noch immer ist das Gefälle zwischen den alten und den neuen Mitgliedsstaaten groß. Wie sehen diese den Beitritt?

Wessels: Es stimmt zwar, dass die Unterschiede innerhalb der Union immer noch groß sind - aber sie nehmen ab. 2004 lag die Wirtschaftsleistung der neuen Staaten bei etwa 50 Prozent des EG-Durchschnitts - natürlich mit gewissen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Zehn Jahre später liegen sie schon bei 65 Prozent. Sie haben also enorm aufgeholt, auch wenn sie noch nicht ganz auf Augenhöhe sind. Und sie profitieren natürlich auf vielen anderen Ebenen, etwa dem kulturellen oder wissenschaftlichen Bereich, wo sie ganz neue Netzwerke knüpfen konnten, die ihnen vorher nicht möglich waren.

Keine Gefahr für den Arbeitsmarkt

tagesschau.de: Vor der Erweiterung 2004 befürchteten viele Deutsche steigende Arbeitslosigkeit und Dumpinglöhne durch den Zuzug von Osteuropäern. Auch Politiker und Wissenschaftler waren teilweise sehr skeptisch, etwa hinsichtlich der wirtschaftlichen Unterschiede. Waren diese Ängste berechtigt?

Wessels: Es hat sich mittlerweile gezeigt, dass die neuen Staaten völlig "normale" Mitglieder der EU geworden sind, die genauso mitarbeiten und sich einbringen wie Deutschland, Frankreich oder Italien und obendrein teilweise besser haushalten als die alten Mitglieder. Und auch mit Blick auf die Arbeitsmarktlage zeigen die Statistiken, dass sich die Situation in Deutschland nach der Freizügigkeit nicht verschlechtert hat.

Man darf aber natürlich auch nicht verschweigen, dass es Probleme in Mitgliedsstaaten gibt, etwa mit bestimmten politischen Entwicklungen in Ungarn. Auch bei den jüngsten Mitgliedern, Bulgarien und Rumänien, sind Korruption und innere Sicherheit ein Thema. Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir diese Länder beispielsweise in den Schengen-Raum aufnehmen wollen.

tagesschau.de: Aktuell warnt die CSU vor "Armutseinwanderung" aus diesen Ländern. Können sie vor dem historischen Hintergrund die aktuelle Debatte nachvollziehen?

Wessels: Dass man das thematisiert, kann ich schon verstehen, man muss dann aber genau hinschauen. Einer der wichtigsten Gedanken der EU ist, dass nicht nur Waren und Güter frei zirkulieren dürfen, sondern auch Personen sich bewegen dürfen. Und wenn wir verlangen, dass diese Länder ihre Märkte öffnen und andere Verpflichtungen eingehen, müssen wir natürlich auch die Rechte akzeptieren, die diesen Staaten und ihren Bürgern zustehen. Wir sollten deshalb nicht automatisch denken: Das sind Fremde, vor denen müssen wir uns schützen. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir die Leute beteiligen und wie uns deren Stärken auch nutzen können.

Das Interview führte Alexander Steininger, tagesschau.de.