"Rechtsstaats-TÜV" der EU Schlechte Noten nicht nur für Ungarn
In mehreren EU-Staaten gibt es Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz - oder kritische Journalisten werden bedroht. Das soll künftig Konsequenzen haben. Widerstand gegen die Pläne kommt nicht nur aus Ungarn.
Von Alexander Göbel, ARD-Studio Brüssel
Rechtsstaatlichkeit ist ein heißes Eisen in der EU, in den Debatten darüber schlagen oft die Emotionen hoch. Im "Rechtsstaats-TÜV" der EU-Kommission aber geht es um Fakten. Zum ersten Mal hat die Brüsseler Behörde den Zustand der Rechtsstaatlichkeit umfassend analysiert - für alle 27 Mitgliedsstaaten.
"Ein ungenießbarer Cocktail"
Der Bericht sei ein objektiver Blick auf Gewaltenteilung, Korruptionsbekämpfung, Medienvielfalt und Unabhängigkeit der Justiz, sagte die zuständige Vize-Kommissionspräsidentin Vera Jourova in Brüssel. "Es war uns wichtig, endlich eine Übersicht zu diesen Indikatoren zu erstellen und zu sehen, wie sie zusammenhängen", so Jourova. "Es sind die wichtigsten Zutaten eines Rechtsstaats - und wenn etwas nicht stimmt, kann daraus ein ungenießbarer Cocktail werden."
Zusammengebraut hat sich einiges. Während etwa Deutschland noch vergleichsweise gut wegkommt, stellt der Bericht vor allem Ungarn in allen Punkten ein schlechtes Zeugnis aus.
Zweifel an echter Unabhängigkeit vieler Gerichte
Teils erhebliche Probleme dokumentiert der Bericht mit Blick auf die Unabhängigkeit der Gerichte: vor allem in Polen, aber auch in Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Slowakei. Politischen Druck auf Journalistinnen und Journalisten bis hin zur Bedrohungen macht der Rechtsstaats-TÜV vor allem an Beispielen aus Ungarn und Bulgarien fest, aber auch aus Kroatien, Slowenien, Spanien und Malta.
"Wenn die Grundwerte nicht geachtet werden, wie sollen wir dann gegenüber Beitrittskandidaten oder internationalen Partnern glaubwürdig sein?", sagte Justizkommissar Didier Reynders. "Ohne den Schutz des Rechts ist das gesamte europäische Bauwerk in Gefahr."
Reynders sieht in dem Bericht ein Frühwarnsystem: Jedes Jahr aktualisiert könne er helfen, eine neue Kultur der Rechtsstaatlichkeit zu etablieren. Die Regierung von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban weist jedoch den Rechtsstaats-TÜV als "absurd" zurück.
Forderung nach Konsequenzen
Kommissions-Vizepräsidentin Jourova stellt ihrerseits klar: Der Grundwertebericht sei kein Ersatz für andere Maßnahmen wie etwa Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge - wie sie gegen Ungarn und Polen bereits laufen. Zudem sei es auch richtig, dass EU-Haushalt, mit der Frage verknüpft werde, ob in einem Mitgliedsstaat Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit eingehalten oder verletzt werden.
Bei Verstößen gegen die Rechtstaatlichkeit sollen also künftig auch Fördermittel aus Brüssel gekürzt oder gestrichen werden können. Genau das wollen auch viele Abgeordnete des EU-Parlaments. Der Liberale Moritz Körner etwa begrüßt den Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission als wichtigen ersten Schritt - fordert aber Konsequenzen, von der Kommission, vor allem aber von den Mitgliedsstaaten.
"Es darf keinen Rabatt auf EU-Werte mehr geben", sagte Körner. "Der Kuschelkurs mit Kaczynski und Orban muss aufhören." Das EU-Parlament werde auf einen Rechtsstaats-Mechanismus pochen.
Das Parlament will mehr
Ein Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft für einen solchen Mechanismus ist von einer Mehrheit der EU-Staaten angenommen worden. Im Parlament aber betrachten viele diesen Vorschlag als zu schwach gegenüber Orban und Co. Ungarn und Polen wiederum drohen, den Start des Corona-Hilfsprogramms zu blockieren, sollte es eine Verknüpfung zwischen Rechtsstaatlichkeit und den Hilfszahlungen geben.
Die Parlamentarier wollen den Entwurf jedenfalls kräftig verschärfen und kommende Woche debattieren. Rechtsstaatlichkeit wird in der EU also ein hoch emotionales Thema bleiben – daran dürfte auch der neue, nüchtern vorgestellte Rechtsstaats-TÜV nichts ändern.