EuGH zu humanitären Visa Revolution in der EU-Asylpolitik?
Momentan ist es noch unklar, was die EU-Staaten unter einem humanitärem Visum verstehen. Ein Urteil des EuGH könnte die Diskussion grundlegend verändern - und die gesamte EU-Asylpolitik auf den Kopf stellen.
Dieses Urteil könnte wie eine Bombe einschlagen. Sollte der Europäische Gerichtshof der Einschätzung des Gutachters folgen, könnte das die Asylpolitik in der EU ziemlich auf den Kopf stellen, meint Philippe De Bruycker, Jura-Professor an der Freien Universität Brüssel: "Das wäre eine echte Revolution. Denn es würde bedeuten, dass Asylsuchende die Möglichkeit hätten, humanitäre Visa nicht auf europäischen Boden, sondern bereits von ihren Herkunftsländern aus zu beantragen."
Der italienische Gutachter Paolo Mengozzi ist in seinen Schlussanträgen der Ansicht, dass alle EU-Länder verpflichtet sind, humanitäre Visa auszustellen. Und zwar für Menschen, denen in ihren Heimatländern nachweislich Folter oder andere unmenschliche Behandlung drohen.
Im konkreten Fall geht es um ein syrisches Ehepaar mit drei kleinen Kindern. Im Oktober vergangenen Jahres hatten sie in der belgischen Botschaft in Beirut Anträge für humanitäre Visa gestellt, um damit nach Belgien einzureisen. Diese Visa sind räumlich und zeitlich befristet: auf bis zu 90 Tage. Einer der Antragsteller sagte, er sei entführt, geschlagen und gefoltert worden. Darüber hinaus sei die syrische Familie wegen ihres christlich-orthodoxen Glaubens in Gefahr.
Das belgische Ausländeramt lehnte die Anträge ab. Die syrische Familie wolle die zeitlich befristeten humanitären Visa nur deshalb bekommen, um danach länger als die erlaubten 90 Tage in Belgien zu bleiben. Zudem seien EU-Länder nicht verpflichtet, alle Personen in katastrophalen Lebenslagen bei sich aufzunehmen.
Die Lage hat sich drastisch verändert
Ein humanitäres Visum ist eine Möglichkeit, einem Menschen, der besonderen Schutz braucht, eine legale Einreise nach Europa zu erlauben, erläutert die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel - also für Menschen, die Flüchtlinge seien, vor einer Hungersnot fliehen oder besondere medizinische Behandlung benötigen. "Man muss aber auch dazu sagen, das war ursprünglich eine Idee für wenige Ausnahmefälle."
Durch Kriege und Krisen und die daraus resultierenden Flucht veränderte sich die Lage in den vergangenen Jahren drastisch. Das humanitäre Visum sei im Visakodex unklar definiert, meint Jura-Professor De Bruycker. Deshalb überarbeitet es die EU-Kommission momentan, und die europäischen Regierungen und das Europaparlament diskutieren darüber. Das gerichtliche Urteil birgt also politischen Sprengstoff, meint De Bruycker. "Der Europäische Gerichtshof urteilt nun also über etwas, woran die legislativen Kräfte der Europäischen Union gerade arbeiten."
Experten erwarten eher einen Kompromiss
Sehr häufig folgen die Richter des Europäischen Gerichtshofs der Bewertung des Generalanwalts, etwa in zwei von drei Fällen. Aber diesmal wird es anders sein, meint De Bruycker: Der Gerichtshof werde eine solche Revolution nicht auslösen. Er werde vielleicht einen Mittelweg finden, um zu verhindern, dass die Botschaften der EU-Länder außerhalb des Schengenraums in Zukunft extrem viele Asylanträge bearbeiten müssen.
Auch EU-Parlamentarierin Sippel findet es schwierig, humanitäre Visa in der derzeitigen Situation für eine sehr große Zahl von Menschen vernünftig zu organisieren. Und auch sie geht davon aus, dass sich die höchsten europäischen Richter für eine Kompromisslösung entscheiden werden: "Entweder sie sagen, es bleibt freiwillig. Oder sie sagen, wir wollen es zur Pflicht machen, aber es obliegt den Mitgliedstaaten, die Kriterien festzulegen." Sie sei gespannt, wie es ausgeht.