Lissabon-Vertrag und EU-Parlament Mehr als doppelt so viel Macht
Der Lissaboner EU-Reformvertrag ist heute in Kraft getreten - und vor allem im Europäischen Parlament werden das viele feiern. Für die Abgeordneten bedeutet der Vertrag einen massiven Machtzuwachs. Doch mehr Macht heißt auch mehr Anforderungen.
Von Wolfgang Landmesser, WDR-Hörfunkstudio Brüssel
Einige EU-Mitgliedsstaaten könnten noch ihr blaues Wunder erleben. Bisher war das Europaparlament in vielen Bereichen zahm. Über die Themen Innere Sicherheit und Datenschutz etwa konnten die Straßburger Abgeordneten so viel debattieren wie sie wollten. Zu sagen hatten sie nichts. Jetzt kann das Parlament hier Entscheidungen der 27 europäischen Regierungen stoppen.
Beispiel: der Konflikt um den Bankdienstleister Swift. Möglichst schnell wollen die Innenminister das Abkommen mit den USA über die Bühne bringen, wonach der US-Geheimdienst Zugriff auf die Bankdaten von 500 Millionen Europäern bekommt. Nicht ohne das Europäische Parlament, sagt Hannes Swoboda, Spitzenmann der österreichischen Sozialdemokraten: "Man versucht, den Amerikanern gefällig zu sein, das ist natürlich der einfache Weg. Wir wollen auch gute Kooperation mit den Amerikanern haben. Aber wir können nicht zulassen der amerikanische Senat und das Repräsentantenhaus in allen Fragen mitreden können - und das Europäische Parlament nicht. Das ist unakzeptabel."
Mitentscheiden in 90 Politikfeldern
Das neue Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr. Die Macht des EU-Parlaments wird durch den Lissabon-Vertrag mehr als verdoppelt. Bisher dürfen die Abgeordneten in rund 40 Politikfeldern mitentscheiden, in Zukunft sind es fast 90. Darunter so wichtige Themen wie Agrarpolitik, Einwanderung und Asylfragen, Kampf gegen die Kriminalität sowie die Außen- und Sicherheitspolitik.
Das Europaparlament sei damit voll emanzipiert, freut sich Elmar Brok, außenpolitischer Sprecher der Konservativen im Europaparlament: "Die Kollegen, die bisher beratende Rolle hatten, fühlen sich jetzt als volle Parlamentarier. Deswegen ist die Situation überwunden, dass wir in Teilen nicht vollgültig dabei waren. Mit diesem Vertrag wird das Parlament in nahezu allen Fragen gleichberechtigter Mitentscheider mit dem Rat."
Neue Befugnisse beim Etat
Auch auf den Finanzen der Gemeinschaft hat das Parlament in Zukunft den Daumen. Über die Schwerpunkte des Etats entscheiden bisher im wesentlichen die Mitgliedsstaaten. Zum Beispiel über die Gelder für die Landwirtschaft, über 40 Prozent des EU-Haushalts. Das Parlament wird neue Schwerpunkte setzen, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Jo Leinen: "Wir sind Gesetzgeber bei der Agrarpolitik, das ist der allergrößte Haushaltsposten, über 50 Milliarden werden jährlich in die Landwirtschaft gebuttert, da hat das Parlament künftig ein Mitspracherecht, wofür wir das Geld ausgeben. Wir werden nicht mehr alles subventionieren, das wird aufhören."
Welcher Anteil des Haushalts in welche Bereiche fließt, legt der EU-Finanzrahmen fest. Der aktuelle läuft noch bis 2013. In Zukunft könnte Europa also auch anteilig mehr Geld für Forschung und Entwicklung oder Klimaschutz ausgeben - und deutlich weniger für die Landwirtschaft.
Mehr Macht - aber auch mehr Effizienz?
Mehr Macht bedeutet aber auch: Das Straßburger Parlament muss effizienter werden. Viel mehr Entscheidungen müssen die Abgeordneten treffen; viel öfter mit den Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission um neue Gesetze ringen. Das Problem beschreibt das Brüsseler Center for European Policy Studies so: Wenn das Parlament zur reinen Entscheidungsmaschine wird, bleibt keine Zeit mehr für wichtige Grundsatzdebatten. Das Parlament könnte als noch bürokratischer und bürgerferner werden als bisher.
Doch die deutsche Grüne Rebecca Harms sieht die neuen Aufgaben vor allem als Chance: "Das liegt an uns, wie müssen gut vermitteln, was wir hier machen." Wenn Europäisches Parlament und nationale Parlamente ihrer Rolle gerecht würden, werde der Parlamentarismus stärker und auch die Transparenz in der Europäische Union.
Bei nur 43 Prozent lag die Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen im vergangenen Juni. Wenn das europäische Parlament erfolgreich mit der neuen Machtfülle umgeht, müsste sie in fünf Jahren deutlich höher liegen.