Vor EU-Innenministertreffen Wie es um die Balkanroute wirklich steht
Nach wie vor sind Menschen auf der Balkanroute in die West-EU unterwegs. Dass die Lage laut Österreich "zum Teil dramatisch" ist, bestätigen Migrationsforscher bislang nicht - warnen aber: Die Länder seien schlecht vorbereitet.
Seit vier, fünf Monaten steckt Manaf aus dem Jemen fest im Dreiländereck zwischen Serbien, Rumänien und Ungarn. In einer verfallenen Molkerei ohne Dach campieren der 24-Jährige und einige Dutzend andere Geflüchtete auf der sogenannten Balkanroute.
"Ich bin von Jemen nach Ägypten gereist, um ein Visum für die Türkei zu kriegen", erzählt er. "Dort bin ich hingeflogen und dann losgelaufen. Nach Griechenland. Etwa einen Monat."
Danach verschwimmt die Reihenfolge der Länder und Städte, die Manaf durchquert hat. Jetzt jedenfalls ist er wieder an einer EU-Außengrenze angekommen. Sein Ziel: die Niederlande. Ein Mal hat er mit einem Freund schon versucht, über Rumänien nach Ungarn zu kommen, aber die Polizisten auf der anderen Seite hätten sie erwischt, sagt er - und mit dem Auto zurück an die serbische Grenze gefahren.
100.000 Menschen bis Ende August
Es sind also nach wie vor und wieder Menschen auf dem Balkan unterwegs. Mehrere Migrationsforscher gehen davon aus, dass sich nun viele Menschen wieder in Bewegung setzen, die wegen der Corona-Pandemie festsaßen. Wie viele es genau sind: Schwer zu sagen. Denn oft werden die Menschen auf ihren Reisen mehrfach aufgegriffen und gehen so in die Statistiken mehrerer Länder ein.
Laut der Internationalen Organisation für Migration der UN wurden bis Ende August im gesamten Westbalkan knapp 100.000 Flüchtlinge registriert. Flüchtlingstrecks wie im Jahr 2015 sind also nicht unterwegs.
Dennoch beschwor der serbische Innenminister Aleksandar Vulin vergangene Woche bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Ungarn und Österreich das Bild der großen Flüchtlingskrise herauf: "Ich kann Ihnen sagen, dass die Zahlen beinah explodiert sind, sodass sie sogar mit dem Beginn der Krise 2015 verglichen werden können", behauptete er. "Der Druck auf unsere Grenzen ist enorm."
Viele Asylanträge ohne Perspektive
Allerdings ist Serbien eher Zwischenstopp als Endstation - und aus Sicht der EU Teil des Problems: Denn Serbien hat Reiseabkommen mit mehreren Staaten, die den Bürgerinnen und Bürgern visumsfreie Einreisen erlauben. Das merkt momentan vor allem Österreich.
Die Situation sei "dynamisch, ja zum Teil dramatisch", sagt der dortige Innenminister Gerhard Karner nach seinem Gespräch mit Vulin: "Wenn wir sehen, dass wir in den ersten acht Monaten 58.000 Asylanträge hatten - und vor allem aus Ländern, die praktisch keine Chance auf Asyl haben."
Rund ein Viertel der Asylanträge in Österreich werden derzeit von Menschen aus Indien und Tunesien gestellt, ohne Aussicht auf Erfolg. Es sind Länder, mit denen Serbien eben jene Visa-Abkommen hat. Serbien versprach daher jüngst, seine Visa-Regeln an die der EU anzupassen - voraussichtlich bis Ende des Jahres.
"Zehn von elf Flüchtlingen aus der Ukraine"
In Deutschland wurden in diesem Jahr laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bisher rund 155.000 Anträge auf Asyl gestellt, weit weniger als in den Jahren 2015 und 2016. Damals waren es mehr als drei- bis viermal so viele.
Die Situation heute ist also mit der von 2015 nicht vergleichbar, sagt der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus, Gründer der Denkfabrik "European Stability Initiative":
2015 hatten wir in zwölf Monaten eine Million Menschen, die irregulär aus der Türkei mit Booten nach Griechenland auf die Inseln kamen und dann über Südosteuropa Richtung Deutschland. 2022 sind zehn von elf Flüchtlingen, die in Deutschland aufgenommen wurden, regulär in die Europäische Union eingereist: aus der Ukraine. Ohne Schlepper."
EU schlecht vorbereitet
Die Zahl der irregulären Einreisen über die Balkanroute verblasse gegen die realistische Herausforderung, dass mit einer sich möglicherweise verschlechternden Lage in der Ukraine wieder mehr Menschen von dort Richtung Europa flüchten könnten.
Knaus rät daher, auch nicht mit den Rezepten von 2015 auf die Lage heute zu reagieren: "Debatten über Grenzkontrollen an der bayrisch-österreichischen oder deutsch-tschechischen Grenze führen an der Herausforderung - sich vorzubereiten auf die größte Flüchtlingsbewegung, die der Krieg in der Ukraine auslöst -, führen an dieser Herausforderung vollkommen vorbei."
Bisher, sagt der Experte, seien die Länder auf die tatsächliche Herausforderung eher schlecht vorbereitet.