Menschen an belarusischer Grenze "Mit Gewalt Richtung Polen geschubst"
Für die Migranten an der belarusischen Grenze zur EU ist die Krise noch nicht vorbei. Sie berichten übereinstimmend: Belarusische Soldaten hätten sie in eine Zwangslage gebracht und zur Gewalt angestiftet.
Karar gehört zu den Starken. Der 27-jährige Iraker ist sportlich, durchsetzungsstark, er hat auf der Reise vom Irak durch Belarus nach Deutschland ein Mädchen mit Behinderung auf dem Rücken getragen. Doch jetzt ist er mit seiner Kraft am Ende - wegen der Vorfälle mit belarusischen Sicherheitskräften. "Ich kann nicht ruhig schlafen", sagt Karar. "Ich erlebe Albträume. Was ich erlebt habe, begleitet mich jetzt ständig."
Karars Fluchtgeschichte ist eine von mehr als 10.000 - so viele Menschen sind laut Bundespolizei dieses Jahr über Belarus bis nach Deutschland gelangt. Einem Schlepper aus Minsk zahlte Karar 3000 US-Dollar, nachdem er in sozialen Netzwerken von der Fluchtroute über Belarus gelesen hatte. An der Grenze nach Polen ließ ihn ein belarusischer Grenzschützer zunächst passieren, er gelangte nach Polen - doch die polnischen Soldaten dort schickten ihn wieder zurück.
"Unmöglich, in Belarus zu bleiben"
Dann begann Karars Odyssee bei den belarusischen Militärs. Er und eine flüchtende Familie fanden Unterschlupf in einer Panzerwerkstatt, eigentlich wollten sie zurück nach Minsk. Doch das verhinderten die belarusischen Soldaten, wie er berichtet:
In der Nacht haben sie uns in einen großen Militär-Lkw verfrachtet und wieder an die polnische Grenze gebracht. Sie haben uns angeschrien und geschlagen - und mit Gewalt Richtung Polen geschubst. Sie sagten: Es gibt kein Zurück mehr für euch Flüchtlinge. Entweder schafft ihr es nach Europa oder ihr sterbt hier an der Grenze.
Mit einem Bolzenschneider hätten die belarusischen Soldaten den Grenzzaun aufgeschnitten, erzählt Karar. "Wer deren Befehlen nicht gehorcht, der wird erfrieren oder zu Tode geprügelt. Es ist unmöglich, in Belarus zu bleiben." Karar gelang mit Hilfe von Schleppern die Weiterreise nach Deutschland. Er lebt jetzt in Berlin in einem Asylbewerberheim. "Nachdem wir hier in Deutschland angekommen sind, haben wir verstanden, dass wir eine Art Waffe für Belarus waren, um Druck auf die EU auszuüben. Aber wir hatten keine Wahl. Wir waren denen ausgeliefert."
"Wir wurden dazu gezwungen anzugreifen"
Fast jeden Tag veröffentlicht Polens Grenzschutz Bilder und Videos von versuchten Grenzübertritten. Sehr oft sind darauf belarusische Soldaten zu sehen, meist maskiert, manche setzen grüne Laserstrahlen und Stroboskopblitze ein - mutmaßlich, um die polnischen Grenzschützer abzulenken. Viele Migranten kommen derzeit aus Brusgi. In einer Lagerhalle an dieser Grenzstation sind rund 1800 Menschen untergebracht - aus Kurdistan im Irak, Syrien, Afghanistan. Abends, so erzählen viele hier, kämen belarusische Soldaten und nähmen Menschen Richtung Grenze mit. Der 16-jährige Amir erzählt: "Ein belarusischer Soldat hat zu mir gesagt: Willst du nach Polen? Ich hab ihn gefragt: Wie? Und er sagte: Mit GPS. Ich hab geantwortet: Nein, es schneit draußen, es ist zu kalt. Ich kann das jetzt nicht machen."
Weitere Migranten im Lager bestätigen, dass auch sie von Grenzsoldaten angesprochen wurden. Viele haben aber Angst, das öffentlich zu wiederholen. Die Soldaten würden ihnen verbieten, darüber zu sprechen. Fast alle in Brusgi sind Teil einer Gruppe von etwa 2000 Migranten, die gemeinsam Richtung polnische Grenze marschiert sind. Organisiert hätten sich die Migranten selbst über eine Telegram-Gruppe, erzählen sie.
Am 16. November warfen direkt an der Grenze Migranten Steine in Richtung polnischer Grenzschützer. Belarusische Soldaten haben die Migranten zumindest dazu angestachelt, wird aus Gesprächen im Lager klar. Denn den Migranten war kalt, zurück Richtung Minsk wollte man sie nicht lassen, erzählt der 18-jährige Zanya Dishad Yousif, der dabei war. "Sie haben uns gesagt: Wir lassen euch nur zurück, wenn ihr die da angreift!" Sie hätten vor allem junge Migranten gezwungen, die polnischen Grenzschützer anzugreifen. "Die Welt denkt jetzt, dass wir Kriminelle sind, weil wir angriffen, aber wir waren nicht diejenigen, die wirklich angegriffen haben. Wir wurden dazu gezwungen."
Belarus' Staatsmedien setzten die berichteten Angriffe auf die polnische Seite der Grenze vielfach ins Bild. Ob Fotos wie dieses von der belarusischen Grenzwache zur Verfügung gestellte Bild vom 16. November inszeniert sind oder einen Vorfall dokumentieren, lässt sich nicht unabhängig überprüfen.
"Werde mir das nicht genauer anschauen"
Belarus' Machthaber Alexander Lukaschenko hat einen Vertrauten in die Region entsandt: Seit Ende Oktober ist das frühere Mitglied einer Polizei-Spezialeinheit, Jurij Karajew, nun im Auftrag des Präsidenten in der Region Grodno tätig. Als Innenminister hat er vorher die Proteste der Opposition niederknüppeln lassen. Von einer Beteiligung belarusischer Sicherheitskräfte an Schleusungen will er im Gespräch mit dem ARD-Studio Moskau nichts wissen: "Als die Migranten versucht haben, die Grenze am Grenzübergang zu überqueren, wurden sie abgedrängt und haben sich in den Wälder und Grünflächen verteilt. Das ist alles."
Sein Chef Lukaschenko räumt in einem interview mit der BBC allerdings ein, dass seine Sicherheitskräfte Migranten geholfen haben könnten: "Es kann sein, dass jemand geholfen hat. Aber ich werde mir das nicht genauer anschauen." Zur Verantwortung der Sicherheitskräfte dürfte es also auch bei der Schleusung von Migranten durch Belarus keine Untersuchungen geben - so wie es schon vergangenes Jahr nach der brutalen Niederschlagung der Oppositionsproteste keine gab.
Für die Migranten in Belarus ist die Krise indes noch lange nicht vorbei. Tausende sind noch im Land - und weiter belarusischen Soldaten ausgeliefert.