Schweiz Felsmassen bedrohen Bergdorf Brienz
Schon seit Langem rumpelt es am "Brienzer Rutsch“ in der Schweiz. Doch jetzt muss alles schnell gehen - bis heute 18 Uhr muss das Dorf Brienz geräumt sein. Felsmassen des darüberliegenden Berges drohen herabzustürzen.
Auf dem grauen Felshang über Brienz hängen Nebelwolken. Immer wieder rumpelt es, wenn oben Steine ins Rollen geraten. Auch ein paar richtig große Brocken liegen schon auf der Wiese gegenüber dem leer stehenden alten Schulgebäude am Dorfrand.
Franziska Bötschi wohnt nur ein paar Meter entfernt: "Die kommen immer runter. Und vor etwa acht Jahren ist der vordere Teil runtergerutscht, aber es sind auch nur ein, zwei Steine auf die Straße gerollt und fertig. Die Bäume da sind kaputt und teils weggeschlagen von den Steinen. Da war vorher ein kleines Wäldchen, alles ist weg."
Franziska Bötschi wohnt nur ein paar Meter vom Felshang entfernt.
Franziska wird bald 70, sie ist in Brienz geboren, lebt schon immer unter und mit dem rumorenden Berg: "Wir sind das gewöhnt, das stört uns nicht. Hier und da hab ich schon geträumt, die Steine kommen ins Haus, aber das hab ich dann wieder vergessen, weil wir eben hier aufgewachsen sind und das immer hören."
"Großer Bergsturz nicht ganz auszuschließen"
Aber jetzt hat sich hoch oben die Bewegung von zwei Millionen Kubikmetern Gestein derart beschleunigt, dass das Dorf evakuiert wird. Alle 85 Einwohnerinnen und Einwohner müssen bis 18 Uhr an diesem Freitag ausgezogen sein. Der Geologe Stefan Scheider leitet den Frühwarndienst: "Das Wahrscheinlichste ist, dass es mehrere kleinere bis größere Felsstürze geben wird von mehreren Zehntausenden bis hunderttausend Kubikmetern", sagt er. "Etwas weniger wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen ist ein großer Schuttstrom wie zähflüssiger Honig, der dann aber eine große Zerstörungskraft hätte, und das letzte, was wir auch nicht ganz ausschließen können, ist der große Bergsturz."
Drohender Felssturz: Bis heute 18 Uhr muss das Bergdorf Brienz geräumt sein.
Der Brienzer Renato Liesch sagt, nachdem in der Turnhalle des Nachbardorfs Geologen, Gemeindevertreter und Zivilschutz über die Evakuierung informiert haben: "Das war wie ein paar um die Ohren zu bekommen. Wie ein Tiefschlag. Im Unterbewussten weiß man dass es kommt, man will es nicht wahrhaben, aber es kommt." Er packe jetzt. Ungern, aber er müsse. "Meine Mutter hat mir gesagt, sie hat keine Angst vor den Steinen, sie hat Angst vor der Ungewissheit. Wie lange sind wir weg? Und sie will nicht aus dem Haus, was mir auch wehtut", so Liesch weiter.
Der Dorfkirchturm steht schon länger schief
Der Turm der Dorfkirche Sankt Calixtus steht schon seit vielen Jahren ein bisschen schief - auch eine Folge des "Brienzer Rutsches". Und auch in der Kirche werden jetzt schleunigst Kisten gepackt: Nicht nur Menschen und Tiere müssen nämlich in Sicherheit gebracht werden, sondern auch der spätgotische Flügelaltar - ein Meisterwerk aus dem frühen 16. Jahrhundert.
Karolina Soppa, Professorin an der Hochschule der Künste Bern, ist mit einem Team dabei, den Altar vorsichtig abzubauen und Einzelteile, Skulpturen und Reliefs für die Evakuierung zu verpacken. "Es ist ein wahnsinniger Kraftaufwand, alles möglichst ohne Schäden herunterzubringen, denn es ist wirklich nationales Kulturgut und extrem wertvoll. Deswegen: Wir hätten es auch gerne noch langsamer gemacht. Notkonsolidiert. Wir machen jetzt nur das Allernötigste."
Für die Evakuierung verpackt: Mitarbeiter des Zivilschutzes tragen wertvolle Gegenstände aus der Kirche.
Gleich neben der Kirche, im ehemaligen Pfarrhaus wohnt Monica Bill. Erst vor drei Jahren ist sie hier eingezogen, sagte die 70-Jährige. Jetzt steht sie mit zwei großen Taschen und einem prallvollen Rucksack an der Bushaltestelle. "Ich war so glücklich in diesem Haus und ich kannte das Risiko, aber es war mir recht so."
Rückkehr ins Dorf unklar
Nun zieht Monica erst einmal ins Nachbardorf zu ihrem Freund. Wann sie nach Brienz zurückkehren kann, ob sie überhaupt zurückkehren kann, ist ungewiss. Das entscheidet letztlich der rumpelnde Berg. "Die Natur macht, was sie will", sagt sie, als wir in den Bus einsteigen. "Man nimmt es einfach, wie es kommt, und man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hände, oder?"