Krieg in der Ukraine Wie Cherson den Kriegsverlauf beeinflusst
Der Kampf um Cherson ist für die Ukraine eine Entscheidungsschlacht: Bis September soll das Gebiet wieder unter Regierungskontrolle sein. Doch auch Russland hat dort Pläne für den Herbst.
Bis September könnten die südukrainische Stadt Cherson und das Umland von der russischen Besatzung befreit sein, verkündete jüngst die lokale Militärverwaltung. Deren Berater Serhij Chlan sieht gar einen "Wendepunkt auf dem Schlachtfeld" gekommen: Die ukrainischen Streitkräfte wechselten von der Defensive in die Gegenoffensive.
Britische und US-amerikanische Militärbeobachter bestätigen: Im Gebiet um das Dnipro-Mündungsdelta, 30 Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt, bringen ukrainische Truppen die russischen Invasoren zunehmend in Bedrängnis. Präsident Wolodymyr Selenskyj gab bekannt, das Militär rücke "etappenweise" in die Region ein, Raketeneinschläge in wichtige Brücken über den Dnipro schneiden Russlands schweres Militärgerät vom Nachschub ab, am Rand Chersons sollen mehr als 1000 russische Soldaten eingekesselt sein.
Ende Juli schlug ein ukrainisches Geschoss in die Antoniwskyj-Brücke bei Cherson ein. Die Brücke ist seitdem nur noch für zivile Fahrzeuge vorsichtig befahrbar.
In der Stadt, die vor dem Krieg knapp 300.000 Einwohner zählte, läuft nun alles auf eine der entscheidenden Schlachten für den weiteren Kriegsverlauf hinaus: Russland dürfte sämtliche Kräfte daran setzen, die eroberte Landverbindung vom Donbass bis zur Krim zu halten, um von dort zu weiteren Offensiven Richtung Westen anzusetzen. Gelingt der Ukraine hingegen die Rückeroberung ihres Gebiets, kann sie die russischen Truppen damit hinter den Dnipro zurückwerfen und deren Vordringen ins Landesinnere mindestens für einige Zeit stoppen.
Beide wollen an Cherson auch symbolisch ihre Überlegenheit demonstrieren: Die Ukraine sucht dort ihr Versprechen einzulösen, dass sie ihre Territorien niemals aufgibt und Städte belohnt, die ihr die Treue halten - und zu beweisen, dass Waffenlieferungen aus dem Westen ihr zu mehr als langen Verzögerungskämpfen verhelfen. Russland wiederum will zeigen, dass es zum Umsetzen seiner Annexionsdrohungen auch in der Lage ist - eine Chance zur Verwirklichung des putinschen Geschichtsrevisionismus, der das ideologische Fundament des Angriffskriegs bildet.
Rubel, Passausgabe, Propaganda
Knapp fünf Monate russischer Besatzung haben die Stadt Cherson bereits verändert: Bürgermeister Ihor Kolychajew ist abgesetzt und festgenommen, das Sagen haben nun Ex-KGB-Agent Alexander Kobez und ein früherer Fischfutterhersteller namens Kirill Stremoussow, der bislang als Blogger über Corona-Verschwörungslegenden in Erscheinung trat und auf der EU-Sanktionsliste steht. In Interviews mit russischen Medien sagt er, die Bürger Chersons fühlten sich bereits "als Subjekte der russischen Föderation".
Als Zahlungsmittel gilt der Rubel, Firmen werden beschlagnahmt und zu einer "Umregistrierung" gezwungen, im Zuge derer die Betriebsleitung die russische Staatsbürgerschaft annehmen muss. Auch Einwohner Chersons werden gedrängt, in Eilverfahren russische Pässe zu beantragen - teils soll die Lebensmittelausgabe davon abhängig gemacht worden sein. Berichte über willkürliche Festnahmen, Gewalt gegen Zivilisten sowie Hunderte Vermisste häufen sich. Zur Siegestag-Feier am 9. Mai sollen UdSSR-Flaggen gehisst worden und jubelnde Rentnergruppen von der Krim in die Stadt gebracht worden sein, die einander gegenseitig fragten: "Wo ist die Kamera?"
Widerstand regt sich nur noch in kleinen Gesten: Wenn die russische Flagge verschwindet und statt dessen die ukrainische gehisst wird oder wenn russische Lebensmittel boykottiert werden, wie eine Bewohnerin der Stadt Anfang Juni dem ARD-Studio Moskau berichtete. Außer Propagandabildern dringt seitdem kaum Neues aus der Stadt.
Mutiger ziviler Widerstand
Dabei hatten gerade die Bewohner Chersons mit ihrem Mut zum Widerstand viele beeindruckt: Anfang März, als Russland die Stadt von der Krim aus in nur einer Woche erobert hatte, gingen Menschen in großen Gruppen auf die Straßen, befestigten ukrainische Flaggen auf russischen Panzern, riefen lautstark: "Cherson gehört zur Ukraine!" und "Putin ist ein Würstchen!" Nach tagelangen Protesten schossen russische Soldaten in die Menge, ein Mensch soll dabei gestorben sein.
Selenskyj ernannte Cherson zur "Heldenstadt" - gemeinsam mit Mariupol, Charkiw und drei weiteren Kriegsschauplätzen. Wenig später bezogen dort die russische Nationalgarde und der Geheimdienst FSB Quartier. Seit dem Frühjahr schleppt Russland im großen Stil Getreide und Sonnenblumenkerne aus der Region ins eigene Land weg. Doch neben Kriegsbeute und der strategisch günstigen Lage zwischen Krim und Dnipro hat Cherson für Putin eine dritte wichtige Bedeutung: Hier will er ein Exempel seiner aus vergangenen Zeiten abgeleiteten Großmachtfantasien statuieren.
Das "Wilde Feld" von 1778
In der ersten Septemberhälfte, verkündete jüngst die von Russland installierte Kollaborationsregierung, solle in Cherson und dem nahegelegenen Saporischschja ein "Referendum" über einen Beitritt zur russischen Föderation stattfinden - die Bildung von Wahlkommissionen, die "Wählerlisten" aufstellen sollten, sei bereits angelaufen. Katerina Gubaewa, die der von Russland für die Chersoner Oblast eingesetzten Kollaborationsregierung angehört, schrieb dazu: "Das Referendum ist unsere Chance, aus dem 'Wilden Feld' herauszutreten".
Als "Wildes Feld" wurden im Mittelalter Steppenlandschaften der Süd- und Ostukraine bezeichnet, in der Reiter- und Nomadenvölker wie die Saporoger Kosaken lebten - im russischen Geschichtsbild werden diese als unzivilisierte "Wilde" dargestellt, die Russland gezähmt habe. Die Region Cherson war zu dieser Zeit von Krimtataren bewohnt. Zarin Katharina die Große eroberte das Gebiet, unterjochte die Kosaken und gründete 1778 die Stadt Cherson.
Nun, zweieinhalb Jahrhunderte später, wiederhole sich die Geschichte, fabuliert Gubaewa weiter: Russland "errichte eine Zivilisation" auf einem Territorium, das 1991 - gemeint ist das Jahr der ukrainischen Unabhängigkeit - gezielt seines historischen Gedächnisses, seiner Industrie und seiner Zukunft beraubt worden sei. Das Referendum sei dazu da, "dem Volk sein Gebiet zurückzugeben".
Wer kann zuerst Fakten schaffen?
Aus dieser Umkehrung historischer Tatsachen, wenn sie denn gelingt, könnte Russland auch militärische Kraft schöpfen. "Wenn Gebiete im Süden annektiert werden, werden die russischen Streitkräfte weiter in Richtung Odessa ausgreifen. Dann wäre die Überlebensfähigkeit der Ukraine immens beeinträchtigt", sagte Sabine Fischer von der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik im tagesschau.de-Interview.
Denn mit Odessa verlöre die Ukraine ihren letzten Zugang zum Schwarzen Meer - und somit zu ihrer Militär- und Handelsflotte. "Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass letztlich das übergeordnete Kriegsziel Russlands die Zerstörung des unabhängigen ukrainischen Staates ist", betont Fischer. "Und je weiter Russland sich Richtung Odessa vorarbeitet, desto größer wird diese Gefahr."
Für Russland und die Ukraine hat ein erbitterter Kampf begonnen, wer mit Cherson bis zum Herbst als erster Fakten schaffen kann.