Regierungsaffäre in Bern Die Schweizer "Corona-Leaks"
Die Schweizer Politik ist in Aufruhr. Wurden während der Pandemie Boulevardmedien über geplante Regierungsmaßnahmen vorab informiert? Damit befassen sich inzwischen Sonderermittler und auch das Parlament.
Es ist eine Affäre mit vielen offenen Fragen - und ebenso vielen Namen. Denn schon bei der Benennung des Skandals herrscht Uneinigkeit.
Berset-Affäre, Ringier-Skandal, Corona-Leaks, Staatsaffäre: Diese Begriffe dominieren seit Mitte Januar die Schlagzeilen der Schweizer Medien. Diese berichten nahezu täglich über neue Wendungen und Deutungen des Politik- und Medienskandals.
Der Zürcher Mediensoziologe Linards Udris meint, "vielleicht sollte man einfach nur von einer 'Leaks-Affäre' sprechen". Denn dann seien gleich alle Leaks auf einmal gemeint.
Ein Zufallsfund
Es begann vor gut zwei Jahren mit den sogenannten "Crypto-Leaks". Vertrauliche Informationen aus einem Untersuchungsbericht zu einer Geheimdienstaffäre um die Schweizer Firma Crypto AG waren 2020 an die Medien gelangt.
Zu diesen Leaks ermittelt seither ein "außerordentlicher Staatsanwalt des Bundes", der bei seiner Arbeit auf weitere mutmaßliche Lecks in Berner Regierungskreisen stieß.
Besonders im Visier steht Peter Lauener, bis Juni 2022 enger Vertrauter und Kommunikationschef des damaligen Gesundheits- und Innenministers Alain Berset, dem aktuellen Schweizer Bundespräsidenten.
Wurden aus seinem Haus Medien gezielt informiert? Der Schweizer Bundespräsident Berset.
Wie kam "Blick" an vertrauliche Informationen?
Es geht um E-Mails von Lauener an Marc Walder, Chef des Medienkonzerns Ringier, der die Boulevardzeitungen "Blick" und "Sonntagsblick" herausgibt. Die E-Mails legen nahe, dass der Chef der Ringier-Blätter vorab exklusiv über die Corona-Politik der Regierung informiert wurde.
Diese Korrespondenz wiederum machte im Januar die Zeitung "Schweiz am Wochenende" publik - Schlagzeile: "Die geheimen Corona-Protokolle".
Der FDP-Politiker Matthias Michel nennt die brisanten E-Mails einen Zufallsfund. Der in der Geheimdienstaffäre ermittelnde Bundesanwalt habe etwas entdeckt, wonach er gar nicht gesucht habe. Das sei wie ein Beifang beim Fischen, so Michel: "Man sucht eigentlich Forellen und findet einen Hecht."
Michel ist Vorsitzender einer der beiden Geschäftsprüfungskommissionen des Schweizer Parlaments, die nun ebenfalls die mutmaßlichen Corona-Leaks genauer unter die Lupe nehmen wollen. Denn die Affäre, so Michel, habe eine besondere staatspolitische Dimension.
Im vergangenen Dezember war dem frisch gewählten Bundespräsidenten der Applaus des Schweizer Parlaments sicher. Inzwischen muss er sich vielen Fragen stellen.
Eine andere Medienkultur
Dass Medien vorab berichten, was ihnen aus Regierungskreisen zugespielt wird, ist in Deutschland nichts Ungewöhnliches. Die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz in Sachen Panzerlieferungen an die Ukraine zum Beispiel war schon am Vorabend der offiziellen Erklärung durch Scholz eine Eilmeldung von "Spiegel" und "Süddeutsche Zeitung" - völlig skandalfrei.
In der Schweiz ist das anders. Das hat mit dem besonderen politischen System zu tun. In der Schweizer Regierung, dem Bundesrat, sitzen Vertreter der vier größten Parteien - von der rechtaußen-SVP bis zu den Sozialdemokraten. Alle Entscheidungen müssen im Konsens getroffen werden, über die sehr unterschiedlichen Parteilinien hinweg.
Wenn der Kommunikationschef des sozialdemokratischen Gesundheitsministers ausgerechnet in der heftig umstrittenen Corona-Politik bestimmten Medien vertrauliche Informationen zuspielt, wird das als Druckmittel und Stimmungsmache gesehen. Nicht nur mit Blick auf die mediale Öffentlichkeit, sondern auch auf die anderen Bundesratsmitglieder.
Konsensfindung gefährdet?
Der Zürcher Mediensoziologe Linards Udris erklärt: "Man hat wirklich diesen Wunsch, dass sich dieses Gremium im Konsens einigt. Und wenn die Wahrnehmung entsteht, jemand versucht, dieses Gremium unter Druck zu setzen, dann kommt das nicht wahnsinnig gut an." Auch, wenn in vielen anderen Ländern diese Art der Interessendurchsetzung als normaler Teil von Politik gesehen würde.
Doch selbst in der konsensorientierten Schweiz stehen in diesem Jahr die Interessen der einzelnen Parteien im Mittelpunkt. Im Herbst sind nämlich Parlamentswahlen, und danach werden auch die sieben Bundesratsmitglieder neu gewählt.
Die Bürger reagieren gelassen
Für Berset und seine Partei, die Sozialdemokraten, ist die "Leaks-Affäre"" also kein guter Start ins Wahljahr. Die wählerstärkste Partei der Schweiz, die rechtspopulistische SVP, fordert den Rücktritt des Gesundheitsministers.
Doch während die Affäre in Bern und in den Medien seit Wochen für maximale Aufregung sorgt, scheint sie die Menschen im Land erstaunlich kalt zu lassen. Berset ist laut einer aktuellen Umfrage nach wie vor einer der beliebtesten Politiker der Schweiz.
Die "Neue Zürcher Zeitung" zitiert den Politikwissenschaftler und Autor der Umfrage, Michael Hermann: Viele Schweizer sähen in den Ereignissen "keinen Skandal, sondern eine Affäre, bei der sich Medien und Politik gegenseitig hochschaukeln".