Europäische Union Wirtschaftsgipfel, von Kriegen überschattet
Auf dem EU-Gipfel heute werden wieder die jüngsten Entwicklungen in den Krisenregionen der Welt diskutiert. Dabei sollte es in Brüssel vor allem um Wirtschaftspolitik und Europas Wettbewerbsfähigkeit gehen.
Drei Jahrzehnte lang hat der europäische Binnenmarkt wachsenden Wohlstand in den EU-Mitgliedsstaaten garantiert. Er gilt als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union.
Damit das so bleibt, muss sich manches ändern: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie anfällig Lieferketten sind. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine machte der EU ihre Abhängigkeit von ausländischen Energielieferungen bewusst. Systemrivale und Konkurrent China verzerrt den Wettbewerb mit massiven Subventionen. Sogar der Partner USA benachteiligt aus EU-Sicht mit seinem Förderprogramm europäische Firmen im Rennen um grüne Technologien.
Kurz: Die EU sieht sich bei Wachstum, Produktivität und Innovationen von Partnern und Konkurrenten bedrängt oder sogar abgehängt.
Binnenmarkt krisenfest machen
Deshalb will die Gemeinschaft den Binnenmarkt krisenfest und zukunftsfähig machen - durch eine neue Vereinbarung über Wettbewerbsfähigkeit. Dafür sollen die Mitgliedsstaaten Hindernisse beseitigen und bestehende Vorschriften besser umsetzen. Das soll helfen, über EU-Grenzen hinweg einfacher Dienstleistungen zu erbringen und Kapital arbeiten zu lassen.
In den vergangenen Jahren waren Mitgliedsstaaten allerdings nicht immer bereit, rechtliche und bürokratische Hürden für Dienstleister und Arbeitnehmer aus Partnerländern abzubauen. Der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta hat monatelang an einem Bericht dazu gearbeitet, den er den Staats- und Regierungschefs und -chefinnen nun präsentiert.
Enrico Letta hatte ein halbes Jahr lang 300 Treffen in 50 Städten, um die Stimmungslage in Europa zu sondieren. Sein Bericht wird die Grundlage der EU-Reformdebatte heute sein.
Fortschritte bei der Kapitalmarktunion?
Europas Wirtschaft nachhaltig umzubauen kostet Hunderte Milliarden Euro pro Jahr. Darüber hinaus wollen EU-Regierungen angesichts der Bedrohung durch Russland massiv aufrüsten. Aber die Mitgliedsstaaten können die dafür nötigen Investitionen nicht allein stemmen.
Um zusätzliche private Mittel aufzubringen, wollen sie den Kapitalmarkt harmonisieren, also nationale Vorschriften angleichen. Das betrifft das Börsen- und Insolvenzrecht sowie die Unternehmens- und Dividendenbesteuerung. Fachleute arbeiten daran seit Jahren ohne greifbare Fortschritte. Genau die hat der EU-Gipfel Ende März verlangt, und darüber debattieren die 27 Mitgliedsstaaten auch diesmal.
Bundeskanzler Olaf Scholz nennt die Kapitalmarktunion die "entscheidende Ressource für künftiges Wachstum". Er schlägt Reformen von Insolvenzrecht und Körperschaftsbesteuerung vor. Scholz beklagt, dass Geld aus Europa in amerikanische Kapitalsammelstellen fließe, bevor es von dort in europäische Start-ups reinvestiert werde.
Mehrere Mitgliedsstaaten fordern außerdem einen europäischen Markt für Verbriefungen, um Kapital freizusetzen. Dabei fassen Banken Kredite zu einem Paket zusammen, in das Anleger investieren. Seit der Finanzkrise von 2008 haben Verbriefungen einen schlechten Ruf. Der Bankenverband betont aber, sie zählten zu den besonders transparenten und regulierten Finanzmarktinstrumenten.
Die Hauptstädte sind sich zwar einig, dass ein harmonisierter Kapitalmarkt besser kontrolliert werden müsste. Viele lehnen aber Frankreichs Forderung ab, diese Aufsicht in Paris anzusiedeln und dafür die dort ansässige Börsenaufsichtsbehörde ESMA auszubauen.
Debatte über iranischen Angriff
Seit dem vergangenen Wochenende hat der Gipfel ein neues Thema: Der iranische Angriff auf Israel hat die Sorge befördert, dass sich der Krieg in Nahost zu einem Flächenbrand ausweiten könnte. Washington und Berlin haben Teherans Attacke scharf verurteilt und gleichzeitig Israel zur Zurückhaltung aufgerufen. Dieser Tenor dürfte auch die Abschlusserklärung des Gipfels prägen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte nach einer G7-Videokonferenz am Sonntag, die EU werde mit Blick auf Irans Drohnen- und Raketenprogramme über zusätzliche Sanktionen beraten. Mehrere Mitgliedsstaaten haben vorgeschlagen, bestehende EU-Strafmaßnahmen zu erweitern, die auf die iranische Drohnen-Produktion für Russland abzielen.
Hilfe für die Ukraine
Moskau setzt solche Drohnen im Angriffskrieg gegen die Ukraine ein. Die Lage dort ist aus westlicher Sicht ebenfalls besorgniserregend und wird beim Gipfel diskutiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rechnet mit einer Offensive der russischen Armee Ende Mai oder Anfang Juni.
Er bittet EU und USA nachdrücklich um mehr militärische Hilfe - und zwar vor allem in Form von "Patriot"-Flugabwehrsystemen, weiterer Artillerie und Munition. Die könnten teilweise aus Zinserträgen aus dem in der EU eingefrorenen russischen Vermögen bezahlt werden. Laut einem EU-Diplomaten könnten erste Erlöse schon im Juni fließen.
Belgiens Regierungschef Alexander de Croo will auf dem Gipfel außerdem den Verdacht ansprechen, dass Moskau Europaabgeordnete bestochen hat. Belgien habe als Sitz der EU-Institutionen die Verantwortung, das Recht jedes Bürgers auf eine freie und sichere Stimmabgabe zu wahren, erklärte De Croo mit Blick auf die Europawahl im Juni.