Die EU und die Türkei Beziehungen im Eisfach
Trotz langer Beitrittsverhandlungen hat die Türkei derzeit keine Aussicht auf eine Aufnahme in die EU. Die Hoffnungen, die sich in Brüssel einst mit Erdogan verbanden, sind längst verflogen. Was ist schiefgelaufen?
Brüssels Beziehungen zur Türkei abgekühlt zu nennen, wäre untertrieben. Sie liegen im Eisfach, tief gefroren. Seit Jahren gibt es in Brüssel keinen einzigen ernsthaften Versuch, die Beitrittsverhandlungen wiederzubeleben - sinnlos aus Sicht der Kommission, solange Recep Tayyip Erdogan an der Spitze des türkischen Machtapparats steht.
Gespannt verfolgt man deshalb in Brüssel die Meinungsumfragen. Es könnte sich etwas ändern, das Ende der Ära Erdogan scheint nicht ausgeschlossen. Aber dafür muss es erstmal faire Wahlen geben, und da scheint man sich im Berlaymont Sorgen zu machen. "Wir erwarten, dass die Türkei sich an die demokratischen Spielregeln hält", teilte Kommissionssprecher Peter Stano in dieser Woche schon mal vorsorglich mit und erklärte mit Blick auf Ankara, was das bedeutet: Faire Behandlung aller Parteien und Kandidaten plus freie Berichterstattung durch die Medien.
Die Spitze saß. In der Türkei sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in den Redaktionsstuben, heißt es unter den EU-Medienvertretern, und dabei ist nicht sicher, ob das ironisch gemeint ist. 90 Prozent der Medien, so schätzen Türkei-Experten, sind unter Erdogans Kontrolle oder stehen seiner Regierung sehr nahe.
Die wichtigste Wahl des Jahres für die EU
Für die EU findet die wichtigste Wahl in diesem Jahr nicht in der EU statt, sondern in der Türkei. Wie es weiter geht in dem Land, das die zweitgrößte Armee in der NATO stellt, und das an der Schnittstelle zwischen Europa und der arabischen Welt eine geopolitische Schlüsselrolle spielt, ist für die EU von entscheidender Bedeutung.
In fast allen Krisen und Konflikten, die die Europäer gerade belasten, ist die Türkei ein mächtiger Player. In Syrien, wo Erdogan völkerrechtswidrig seine Truppen einmarschieren ließ. In Libyen, wo er den Bürgerkrieg mit Waffenlieferungen anheizt. In der Flüchtlingskrise ist die EU angewiesen auf Ankaras Unterstützung, im Ukraine-Krieg sah sie staunend zu, wie Erdogan sich dank seiner Kumpanei mit Putin zum erfolgreichen Vermittler im Getreidekonflikt aufschwingen konnte. Und in der NATO schafft es der starke Mann aus Ankara seit Monaten, die Aufnahme Schwedens zu blockieren. Gegen den Willen fast aller Partner in der Allianz.
Abwahl Erdogans würde nicht Ende aller Probleme bedeuten
Wird sich das ändern, wenn am Sonntag nicht Erdogan, sondern Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu gewinnt? Ja und Nein lautet die Antwort von Politikwissenschaftlern. Keinesfalls könne die EU davon ausgehen, dass mit der Abwahl von Erdogan sämtliche Probleme vom Tisch wären, darauf weist der Leiter des Istanbuler Büros der Mercator-Stiftung, Jannes Tessmann, hin.
Aber die Türkei werde im Fall eines Regierungswechsels einige Schritte auf die EU zugehen. Zum Beispiel rechnet Tessmann mit der Zustimmung zur schwedischen NATO-Mitgliedschaft. Auch die Freilassung politischer Gefangener wie Kulturmäzen Osman Kavala sei wahrscheinlich. "Das wären naheliegende erste Schritte mit einer enormen Wirkung."
Ganz sicher werde sich auch die Art der Kommunikation mit den Europäern ändern. "Nazi-Vergleiche und Fantasien von Raketen auf Athen", so der Politikwissenschaftler in Istanbul, würden dann der Vergangenheit angehören. "Das würde ich von Kilicdaroglu nicht erwarten."
Flüchtlingsabkommen auf der Kippe
Bei anderen Streitthemen können die Europäer aber nicht automatisch auf Entspannung hoffen, wenn es in der Türkei zum Regierungswechsel kommt. Im Gegenteil. Kemal Kilicdaroglu stellt das mühsam ausgehandelte Flüchtlingsabkommen mit der EU in Frage und weiß dabei die Mehrheit der türkischen Wähler hinter sich.
Im Wahlkampf versprach er, innerhalb von zwei Jahren alle syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Das werde dann vermutlich die "größte Belastungsprobe im türkisch-europäischen Verhältnis", sagt Jannes Tessmann voraus. Auch in der türkischen Syrienpolitik und im Streit um Zypern sieht er eher Kontinuität statt eine Abkehr von Erdogans Kurs.
Weiter Weg in die EU
Gehört die Türkei zu Europa, kann sie Mitglied der Union werden? Unzählige EU-Gipfel haben sich über die Frage zerstritten. Die Türkei befand sich auf einem realistischen Weg in die EU, sie ist als Staat sogar ältester Beitrittskandidat, seit 1999. Aber kein anderes Kandidatenland ist heute so weit weg von der Aufnahme in den Club wie die Türkei. Er werde die demokratischen Standards der EU erfüllen, kündigte Oppositionskandidat Kilisdaroglu jetzt an, sogar ohne Vorbedingungen.
Ähnlich erfreulich hörte sich das für Brüssel allerdings auch schon vor 20 Jahren bei Erdogan an. Der Mann galt als Hoffnungsträger. Die Europäer sahen in ihm den ersten muslimischen Demokraten, Joschka Fischer pries die mögliche Brückenfunktion in die arabische Welt. Es waren französische Präsidenten, die offen aussprachen, was nicht wenige andere Staats- und Regierungschefs nur dachten. Die Türkei gehöre weder geographisch, noch historisch, noch kulturell zu Europa, so urteilte Nicolas Sarkozy 2007 als gerade frisch gewählter Präsident, einer seiner Vorgänger, Giscard d’Estaing, hatte sich ähnlich geäußert.
Die klaren Worte aus dem Elyséepalast ermunterten etwas später auch Angela Merkel, aus der Deckung zu kommen. "Eine Vollmitgliedschaft sehen wir nicht", sagte sie im Europawahlkampf 2009, "das wollen wir nicht". Stattdessen schlug sie der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" vor. Aber nicht einmal dafür reichten die Reformschritte aus, zu denen Erdogan bereit war. In den Beitrittsverhandlungen wurde von 33 nötigen Kapiteln nur ein einziges abgeschlossen. Offen blieb, ob Erdogan den Beitrittsprozess jemals ernsthaft verfolgen wollte.
Kritik an Türkei-Politik der EU
Die Europäer haben zu wenig Druck auf Erdogan ausgeübt - diese Ansicht vertritt der renommierte türkische Journalist Bülent Mumay. "Diese heuchlerische Haltung Europas während der Herrschaft Erdogans hat die Demokraten in der Türkei schwer enttäuscht." Mumay ist gerade in der Türkei zu zwanzig Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden, der Urteilspruch des Gerichts liest sich wie ein fadenscheiniger Vorwand. Bülent Mumay berichtet auch für deutsche Medien aus Istanbul, darunter die Deutsche Welle und die FAZ. Seine unabhängigen und kritischen Artikel hat er mit mehreren Verhaftungen bezahlt.
Was er sich von der Europäischen Union wünscht, wenn es am Wahlsonntag zum politischen Wechsel kommt? "In der neuen Ära muss Europa eine sehr klare und offene Beziehung zur Türkei aufbauen", schreibt Mumay auf die Frage von tagesschau.de. Europa müsse aufhören, aufgrund eigener Interessen "die Augen vor antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei zu verschließen". Damit die Demokraten in der Türkei nicht wieder von den Europäern enttäuscht werden.