EU-Außenbeauftragter Borrell Abrechnung mit Europas Außenpolitik
Billige Energie und Waren, kein Sicherheitskonzept: Der EU-Außenbeauftragte Borrell beklagt die Abhängigkeit von China, Russland und den USA und zieht ein desaströses Fazit europäischer Außenpolitik.
Josep Borrell trägt einen klangvollen Titel, er ist der Hohe Repräsentant der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Lieber hätte Borrell einen schlichteren Titel. Er würde sich gern Außenminister Europas nennen. Aber das ist bisher noch immer an den Mitgliedsländern gescheitert. Die Regierungen stellen die Außenminister, nicht Brüssel - so sieht man das von Lissabon bis Warschau. Borrell soll koordinieren. Derselbe Borrell hat dieser Art von europäischer Außenpolitik jetzt im Grunde eine Bankrotterklärung erteilt.
Wohlstand durch billige Energie und Produkte
"Wir Europäer sind jetzt mit den Folgen eines jahrelangen Prozesses konfrontiert", so Borrell, Europa habe seinen Wohlstand komplett von seiner Sicherheit entkoppelt, in vielen europäischen Hauptstädten. "Unser Wohlstand basierte auf billiger Energie aus Russland", fuhr der Hohe Repräsentant fort. Und auf dem Zugang zum chinesischen Markt, für Technologietransfer und Investitionen und immer mit dem Ziel "billige Produkte zu bekommen". Dann fügte Borrell noch einen Satz hinzu, den die Europäer bis dahin eher von Donald Trump gehört hatten: "Unsere Sicherheit haben wir dagegen an die Vereinigten Staaten delegiert".
Europa lässt sich von amerikanischen Soldaten verteidigen, von den Russen billiges Gas liefern und von den Chinesen billige Produkte - dieses Modell sei ganz und gar gescheitert, so das Fazit von Borrell: "Wir haben die Quellen unseres Wohlstands komplett von den Quellen unserer Sicherheit entkoppelt."
Chef von 130 EU-Botschaften weltweit
Der Spanier hielt die ungewöhnliche Rede beim Jahrestreffen mit seinen Botschaftern. Als Hoher Repräsentant hat er eigene Botschafter in rund 130 Ländern, zusätzlich zu den Botschaften, die die 27 EU-Mitgliedsländer selbst in fast allen Ländern der Erde unterhalten. Borrell forderte "seine" Diplomaten auf, ihre Aufgabe als Botschafter Europas besser wahrzunehmen - denn die Zeit der Umbrüche beginne erst. "Ereignisse, von denen wir dachten, sie würden nie passieren, passieren jetzt hintereinander". Der schwarze Schwan werde zur Regel, "weiße Schwäne werden nicht mehr die Mehrheit stellen". Mit anderen Worten: Europa muss sich auch in den kommenden Jahren auf Entwicklungen gefasst machen, die niemand voraussagt.
Abhängig durch wirtschaftliche Verflechtungen
Für Borrell hat Putins Angriff das Weltbild vieler erschüttert - in den Hauptstädten der EU, an den Universitäten, unter Diplomaten. Aus wirtschaftlicher Verflechtung und dem damit verbundenen Glauben an eine friedliche Konfliktlösung sei Abhängigkeit geworden. Genau dieser Fehler dürfe jetzt bei der verzweifelten Suche nach Gas- und Stromlieferanten nicht schon wieder gemacht werden. "Wir dürfen nicht die eine Abhängigkeit durch eine neue Abhängigkeit ersetzen". Jetzt seien die Europäer vielleicht erleichtert, dass Flüssiggas aus den USA kommt:
Aber was würde passieren, wenn sich die Vereinigten Staaten mit einem neuen Präsidenten nicht mehr so freundlich kooperativ gegenüber Europa verhalten?
In Zukunft lieber mehr zuhören
Borrell warnt vor neuen Abhängigkeiten und fordert von allen Mitgliedsländern, dass sie sich auch in ihrer Energieversorgung so schnell wie möglich unabhängig machen oder, wenn nötig, das Risiko der Importe besser streuen. Und noch eine Warnung gab Borrell seinen Diplomaten mit auf den Weg: Sie sollten die Rolle Europas als rechtsstaatliches und demokratisches Vorbild für andere Regionen der Welt nicht überschätzen. Lieber in Zukunft mehr zuhören, so sein Ratschlag an die Botschafter.
"Senden Sie ein Telegramm ... und zwar schnell"
Am Ende wurde der Hohe Beauftragte dann noch sehr praktisch. Die EU-Vertretungen, die offiziell und zum Zweck der besseren Unterscheidbarkeit von den nationalen Auslandsvertretungen nicht Botschaften, sondern "Delegationen" genannt werden, sollten ihn, den Hohen Repräsentanten, besser auf dem Laufenden halten.
Oft erfahre er Neuigkeiten erst aus den Zeitungen. "Ich müsste eigentlich der bestinformierte Mensch weltweit sein", mit all den vielen Delegationen, die die EU rund um den Globus unterhält. Also bitte: "Senden Sie ein Telegramm, eine Mail - und zwar schnell". Gern auch mehr Tweets, das werde jetzt immer wichtiger.