Ex-Frau von Dutroux wieder frei Erinnerungen an den belgischen Albtraum
In den 1990er-Jahren erschütterte der Fall des Vergewaltigers Dutroux Belgien. Nun bekommt seine Ex-Frau - die für den Tod zweier Mädchen verantwortlich war - ihre vollständige Freiheit zurück. Das reißt alte Wunden auf.
Schon der Name der Frau löst bei vielen Belgiern heute noch Hass und Verachtung aus: Michelle Martin war nicht nur über die Verbrechen ihres Mannes Marc Dutroux bis in die Einzelheiten informiert, sie war auch als Mittäterin beteiligt. Mindestens zwei der Mädchen, die Dutroux entführt und missbraucht hat, ließ Martin wissentlich in einem Kellerverlies verhungern.
Darf so eine Frau überhaupt in die vollständige Freiheit entlassen werden? Viele Belgier fragen sich das - und als bekannt wurde, dass die letzten Auflagen gegen die Ex-Frau von Dutroux am Wochenende fallen sollen, löste das eine heftige Debatte aus. "Die Reintegration wird für sie außerordentlich schwierig werden", sagt der Leiter der belgischen Gefängnisaufsicht Marc Neve. Schwierig sei das allein schon wegen der extremen Aufmerksamkeit der Medien.
"Das ist ein Fall außerhalb jeder Norm"
Der Fall Dutroux hatte in den 1990er-Jahren eine der größten Krisen in Belgiens Nachkriegsgeschichte ausgelöst. Die Bilder gehören zum kollektiven Gedächtnis: Zwei Mädchen werden vor laufenden Kameras aus einem Kellerverlies in Charleroi befreit, Polizisten führen sie, die Mädchen sind völlig verstört. Danach stellt sich heraus: Die beiden sind die einzigen Überlebenden. Mindestens zwei Mädchen verhungerten im Kellerverlies. In dem aufwühlenden Prozess, der folgt, wird klar: Es war Dutroux' Frau, die von den Taten wusste und die die Mädchen verhungern ließ.
"Man vergisst leicht", erklärt der Leiter der belgischen Gefängnisaufsicht, "dass trotz aller Schwere der Tat die Reintegration möglich sein muss". Martin ist schon seit 2012 aus dem Gefängnis entlassen, aber es gab noch strenge Sicherheitsauflagen - dieses System habe sich bewährt. Deshalb sei es jetzt richtig, die Auflagen aufzuheben, meint die Behörde. Trotzdem - auch das sei richtig: "Der Fall Dutroux ist außerhalb jeder Norm und das macht die Sache so extrem schwierig."
Abrissarbeiten am Haus von Dutroux in Marcinelle im Juni 2022. An dieser Stelle soll eine Gedenkstelle errichtet werden.
Polizei und Justiz versagten
Was die Sache so schwierig macht: Der Fall stürzte Belgien in eine Staatskrise. Ein vorher unvorstellbares Versagen von Polizei und Justiz wurde öffentlich. Dutroux hatte über Jahre hinweg Mädchen entführt, vergewaltigt, vier Mädchen starben, ihre Namen kennt jeder Belgier. Julie und Melissa, beide acht Jahre alt, als sie im Keller verhungerten, während Dutroux wegen eines Autodiebstahls im Gefängnis saß und seine Frau den Kindern nichts zu essen gab. Und Ann und Eefje, Freundinnen, 17 und 19 Jahre alt, entführt, vergewaltigt, unter Dogen gesetzt. Dutroux vergrub ihre Leichen auf dem Grundstück eines Komplizen.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass einige der Verbrechen nur möglich waren, weil Ermittler und Behörden trotz eindeutiger Hinweise nicht tätig wurden. Denn Dutroux war der Polizei schon seit den 1980er-Jahren als brutaler Vergewaltiger bekannt, er war sogar zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden, kam aber schon nach drei Jahren frei - wegen guter Führung.
Ein Polizist schöpfte keinen Verdacht
Während er unter Beobachtung der Behörden stand, gelang es ihm, insgesamt sechs Mädchen zu entführen und sie monatelang in Kellerlöchern gefangen zu halten. Dort folterte und vergewaltigte er sie mit unvorstellbarer Grausamkeit. Später kam heraus, dass ein Polizist den beiden Achtjährigen, Melissa und Julie, vermutlich ganz nah war - als sie in dem Keller von Dutroux noch am Leben waren. Der Polizist fand Ketten und Folterwerkzeuge und wusste auch, dass der Hauseigentümer ein verurteilter Serien-Vergewaltiger war. Er gab später zu Protokoll, Kinderschreie gehört zu haben. Verdacht schöpfte er aber nicht - er dachte, die Schreie kämen von der Straße.
Gleichgültigkeit oder Komplizenschaft? Die Frage bewegte damals die belgische Öffentlichkeit. Offen bleibt die brisante Frage, ob Dutroux ein Einzeltäter war, der Verdacht eines pädophilen Netzwerks im Hintergrund konnte nie belegt werden. "Meiner Meinung kann so etwas nicht ohne eine Organisation im Hintergrund passieren", erklärt der liberale Politiker Marc Verwilghen im eigens eingerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Im August 2001, am Ende einer schwierigen Ausschussarbeit, zog er ernüchtert Bilanz zum Thema Hintermänner: "Ich schließe das überhaupt nicht aus, aber es lässt sich nicht beweisen."
Kein Einzelfall
Dutroux selbst ist nach wie vor im Gefängnis, verurteilt zu lebenslanger Haft. Wegen seiner Taten geriet das gesamte belgische politische System in den 1990er-Jahren in Misskredit, weit über die Landesgrenzen hinaus. Sexueller Kindesmissbrauch wurde nicht selten mit belgischen Verhältnissen in Verbindung gebracht. Es gab noch kein Internet, keine Bildtafeln mit Tausenden von Gesichtern weltweit verschwundener Kinder und keinen internationalen Markt für Videos mit Missbrauchsszenen von Kindern.
Deshalb ist der Fall Dutroux auch aus medienhistorischer Sicht interessant. Das Monopol der Berichterstattung lag beim Fernsehen, der Fall Dutroux wirkte wie ein in seiner Schauerlichkeit einzigartiger Albtraum. Dass er kein Einzelfall war, sondern sexueller Missbrauch von Kindern mit Gewalt bis zur Tötung viel weiter verbreitet als damals vermutet wurde - das ist spätestens mit der Entdeckung unzähliger kinderpornographischer Gewaltdarstellungen im Internet klar.