"Housing First" Das finnische Konzept gegen Obdachlosigkeit
Auf der ersten Delegationsreise des Bauministeriums sucht Ministerin Geywitz nach Lösungen für eines der drängenden Probleme in Deutschland: die Obdachlosigkeit. In Finnland herrscht schon lange Einvernehmen darüber, dass Wohnen ein Grundrecht ist.
Der rote Parka der Bundesministerin sticht aus der Delegations-Reisegruppe des Bundestags am Flughafen in Helsinki hervor. Ihm folgt ein Tross aus Bundestagsabgeordneten und Journalisten. Sie alle wollen wissen, wie Finnland die Obdachlosigkeit erfolgreich bekämpft und inwiefern das auf Deutschland übertragbar wäre. Geywitz selbst hat viele Fragen im Gepäck: Wie funktionieren die Konzepte, was macht Finnland mit EU-Ausländern, die obdachlos sind? Seit Einführung von "Housing First" hat Finnland die Obdachlosigkeit mehr als halbiert, von 8260 (im Jahr 2008) auf 3686 Obdachlose im Jahr 2022.
Zweite Chance für jeden
Im Wohnprojekt Väinöla rund 20 Kilometer von Helsinki entfernt trifft Geywitz auf Heikki Kakko. Der 68-Jährige wohnt hier seit drei Jahren und zeigt seine kleine Wohnung. Er erzählt der Ministerin, wieso er hier gelandet ist: Nach seiner Firmenpleite kam der finanzielle Ruin. Kein Job, kein Geld und am Ende auch keine Wohnung mehr.
"Jeder in der Gesellschaft verdient eine zweite Chance", sagt Heikki Kakko, "egal, ob du wegen Schulden, Alkohol oder Drogen in die Obdachlosigkeit rutschst." Er sieht seine eigene bedingungslose Wohnung als Sprungbrett zu einem normalen Leben. Möglich macht das das "Housing First" -Programm des finnischen Staates. Für ihn seit nunmehr drei Jahren, die Idee dazu ist deutlich älter.
Grundrecht auf Wohnen
Den Wendepunkt in der finnischen Obdachlosenpolitik markierten die 1980er Jahre. Der Tod vieler Obdachloser in mehreren besonders kalten Wintern hintereinander löste eine gesellschaftliche Debatte aus. An deren Ende stand der parteiübergreifenden Entschluss, dass Wohnen ein Grundrecht ist. Das finnische Konzept sieht vor, möglichst jedem finnischem Obdachlosen bedingungslos eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Die Hilfe beruht auf zwei Säulen: Stiftungen wie die "Y-Foundation" oder das "Blaue Kreuz" bauen und/oder kaufen Wohnungen und stellen diese zur Verfügung. Der Obdachlose ist Mieter der Wohnung, die Miete wird vom Staat bezahlt. Daneben werden Sozialleistungen wie medizinische und psychologische Betreuung und auch Unterstützung bei Behördengängen angeboten. Die Inanspruchnahme der Sozialleistungen ist freiwillig und keine Voraussetzung, um die Wohnung behalten zu können. Finanziert werden die Leistungen vom Sozialministerium STEA und auch aus Mitteln des Europäischen Strukturfonds.
Gemeinnützige Wohnungen
Die "Y-Foundation" ist eine der größten Anbieter von "Housing First"- Angeboten in Finnland, gegründet 1985. Sie verfügt inzwischen über mehr als 10.000 Wohnungen und wird von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. Dabei gibt es unterschiedliche Wohnkonzepte: über die Stadt verteilte einzelne Wohnungen oder Wohnprojekte, auch außerhalb, mit mehreren Wohneinheiten und Gemeinschaftsräumen. Dort werden die Sozialleistungen direkt vor Ort angeboten.
Nicht alle profitieren
Beim Besuch der Obdachlosenzeitung "ISO NRM" in Helsinki erfährt Geywitz, dass nicht alle Obdachlosen im "Housing First"-Programm aufgenommen werden. Zum einen, weil noch Wohnungen fehlen und Betroffene auf Wartelisten stehen, und zum anderen, weil nicht alle Bevölkerungsgruppen in das Hilfesystem gelangen. Denn EU-Ausländer, so Janne Hukka, der Direktor von "ISORNO", tauchen in der finnischen Obdachlosenstatistik nicht auf. Für sie gibt es andere Projekte, wie Wärmestuben und Verkaufsmöglichkeiten der Zeitung.
Der Verkaufspreis beträgt zehn Euro, davon dürfen die Verkäuferinnen und Verkäufer fünf Euro behalten. Eine von ihnen trifft Geywitz vor dem Hauptbahnhof in Helsinki, auch das gehört zum Besuchsprogramm. Nadia Tinuta kommt aus Rumänien. Sie trägt eine Signalweste und darüber ein Barcode-Schild an einem Band um den Hals. Das zeichnet sie als offizielle Verkäuferin von "ISORNO" aus, über den Barcode wird der Verkauf abgerechnet. So arbeitet sie seit mehreren Jahren in der finnischen Hauptstadt, obwohl sie obdachlos ist, erzählt sie.
Ohne Haus kein "Housing First"
"Housing First"-Angebote gibt es auch als vereinzelte Projekte in verschiedenen Städten in Deutschland. Ob das Konzept auch komplett auf Deutschland übertragbar ist, da ist sich Kai-Gerrit Venske, Fachreferent für Wohnungslosigkeit bei der Caritas in Berlin, alles andere als sicher. Seit mehr als 15 Jahren beobachtet er die Entwicklung auf dem deutschen Wohnungsmarkt. Er begrüßt, dass die Bundesregierung die Bekämpfung der Obdachlosigkeit in den Koalitionsvertrag geschrieben hat und Obdachlosigkeit bis 2030 überwinden will.
"Housing First" habe auch beeindruckende Erfolgszahlen, das belegen Studien, sagt er. Er befürchtet aber, dass eine Diskussion um "Housing First" das Hauptproblem in Deutschland verdecken könnte: der eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum, vor allem zu wenig sozialer Wohnungsbau. "Ohne Haus kein 'Housing First'", sagt Venske und blickt deshalb mit gewisser Skepsis auf die Reise der Ministerin.
"Housing First" braucht Fachkräfte
Ein paar Kilometer weiter im Osten der Stadt taucht die Abendsonne die Frankfurter Allee in ein warmes Licht. Hier macht Elena Günzel gerade Feierabend. Seit November arbeitet die Sozialarbeiterin in Berlin bei der Miet- und Wohnungslosenhilfe "My Way". Hier hilft sie auch dabei, für Obdachlose Wohnungen zu finden. Eine eigene Wohnung sei der Anfang, sagt die 25-Jährige, "die meisten Kunden brauchen intensive Betreuung".
Dabei bräuchte sie selbst Hilfe, denn sie findet keine bezahlbare Wohnung in Berlin. "Ich bin als Fachkraft in diese Stadt gekommen, will gerne was Sinnvolles machen und fühle mich jetzt tatsächlich ein wenig veräppelt, mal sehen wie lange ich in der Stadt bleibe", sagt Günzel ein wenig trotzig. Es liegt aber auch ein wenig Hoffnung in der Stimme, doch bald eine eigene Wohnung zu finden, in der sie nach der Arbeit auch mal zur Ruhe kommen kann.
Kontinuität als Erfolgsrezept
Kurz vor dem Rückflug nach Berlin kommt Geywitz nach dem zweitägigen Besuch zu dem Fazit: "Ein Geheimnis des politischen Erfolges in Finnland ist die Kontinuität", sagt sie. Die Finnen hätten parteiübergreifend ein politisches Ziel definiert und das über Legislaturperioden und Regierungen hinweg verfolgt. Neben dem Respekt dafür hört man bei der Bundesbauministerin auch ein wenig Staunen darüber heraus.
Mehr zum Thema sehen Sie im Bericht aus Berlin, am 19.2.2023 um 18 Uhr im Ersten